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15.09.2021
Muslime im Jugendstrafvollzug: Wissenschaftler fordern Ausbau der islamischen Gefängnisseelsorge
Wichtige Rolle bei Resozialisierung und Prävention – Befragung von Strafgefangenen, Seelsorgern und JVA-Beschäftigten in vier Bundesländern
Muslimische Jugendstrafgefangene sind bei der religiösen Betreuung gegenüber ihren christlichen Mithäftlingen benachteiligt. Das zeigt eine Studie des Instituts für Kriminologie der Universität Tübingen in Kooperation mit dem Kriminologischen Dienst Baden-Württemberg und dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN). Die Wissenschaftler fordern einen Ausbau der islamischen Gefängnisseelsorge.
Die Gefängnisseelsorge spielt für die Resozialisierung und Radikalisierungsprävention eine wichtige Rolle. Über die religiösen Bedürfnisse und seelsorgerische Betreuung muslimischer Jugendstrafgefangener gab es aber bislang nur bruchstückhafte Informationen, obwohl ihr Anteil in den deutschen Jugendstrafanstalten bei etwa 40 Prozent liegt. Die gerade abgeschlossene Studie „Muslime im Jugendstrafvollzug – Chancen und Risiken für eine gelingende Integration“ liefert nun ein detailliertes Bild der Situation.
Für das vom Bundesforschungsministerium geförderte Projekt wurden Daten in insgesamt acht Justizvollzugsanstalten (JVA) in Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen erhoben. Befragt wurden 766 männliche und 62 weibliche Strafgefangene zwischen 15 und 25 Jahren. Einbezogen waren Mitglieder aller Konfessionen sowie Konfessionslose. Interviews mit Seelsorgern, Anstaltsleitungen und JVA-Beschäftigten ergänzen die Erhebung. Wegen des sehr geringen Frauenanteils unter den Gefangenen liegt der Fokus der Untersuchung auf den männlichen Jugendlichen.
Jeweils 41 Prozent der befragten Jugendlichen gehören muslimischen oder christlichen Religionsgemeinschaften an, weitere sechzehn Prozent rechnen sich selbst keiner Religion zu. Für die große Mehrheit der Jugendstrafgefangenen spielt der Glaube eine wichtige Rolle: 84 Prozent der Muslime und 78 Prozent der Christen schätzen sich als religiös ein. „Das Interesse an der Religion hatten wir in diesem Ausmaß nicht erwartet. Es zeigt sich, dass viele Jugendliche im Gefängnis die Religion wiederentdecken, weil sie ihnen Orientierung und ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln kann“, sagt Projektleiter Tillmann Bartsch, außerplanmäßiger Professor für Kriminologie an der Universität Tü-bingen und stellvertretender Leiter des KFN.
„Hinzu kommt, dass sich viele Jugendliche Seelsorgern gegenüber unbefangener äußern, weil sie sich weniger bewertet fühlen als im Gespräch mit Sozialarbeitern oder Psychologen“, ergänzt Wolfgang Stelly, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen und beim Kriminologischen Dienst Baden-Württemberg. Unterschiede gibt es bei den Gesprächsthemen: Während die Christen mit dem Seelsorger vor allem über die Familie oder den eigenen Lebensweg sprechen möchten, stehen für die Muslime Fragen nach den religiösen Geboten, der Koranauslegung und der korrekten Praktizierung des Glaubens im Vordergrund.
„Wichtiges Signal für die religiöse Gleichstellung“
Viel stärker als die Christen wünschen sich die Muslime eine Verbesserung der religiösen Angebote in der JVA. Zwar geben sie an, dass ihnen die Ausübung ihrer Religion im Prinzip möglich ist. Aber mehr als die Hälfte fühlt sich benachteiligt, weil eigene Gebetsräume fehlen oder religiöse Gebräuche wie das Fastenbrechen im Ramadan mit den festen Abläufen im Strafvollzug kollidieren. Mehr als zwei Drittel sehen sich zudem im Gefängnisalltag bei ihrer Glaubensausübung nicht hinreichend unterstützt. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass muslimische Seelsorger im Gegensatz zu ihren christlichen Kollegen bislang nur als Teilzeitkräfte auf Honorarbasis beschäftigt sind. Da sie geringere Stundendeputate haben, ist vielfach keine Einzelbetreuung möglich. Manchmal können deshalb auch Gottesdienste wie das Freitagsgebet nicht stattfinden.
„Eine Erhöhung der Stundenzahl und klarere institutionelle Strukturen für die muslimische Seelsorge sind notwendig, um die Betreuung zu verbessern. Das wäre zudem ein wichtiges Signal für die religiöse Gleichstellung in den Justizvollzugsanstalten“, sagt Tillmann Bartsch und weist auf ein weiteres Problem hin: Anders als für die christlichen Seelsorger gibt es für ihre muslimischen Kollegen kein gesetzlich anerkanntes Schweigerecht. Voraussetzung dafür wäre, dass ein solches Gebot zunächst einmal in den muslimischen Glaubensgemeinschaften selbst verankert wird. Erst dann könnte es vom deutschen Staat anerkannt werden.
Die oft thematisierte Gefahr einer islamistischen Radikalisierung in den Jugendstrafanstalten halten die Forscher für überschätzt. „Ein verfestigtes extremistisches Weltbild verbunden mit Gewaltbereitschaft haben wir nur bei einem Prozent der Inhaftierten festgestellt und es gibt ein dichtes Kontrollnetz, das verhindert, dass sich solches Gedankengut in den Anstalten verbreitet“, sagt Jürgen Thomas vom Kriminologischen Dienst Baden-Württemberg. Zur Prävention trage die muslimische Seelsorge ganz wesentlich bei, wenn sie zum Beispiel die Rechtfertigung von Gewalt im Namen des Glaubens kritisiere. Probleme entstehen den Kriminologen zufolge vor allem nach der Haftentlassung, wenn die Jugendlichen oft sich selbst überlassen sind. „Was fehlt, ist eine Straffälligenhilfe für Muslime, wie es sie in der christlichen Sozialarbeit seit langem gibt“, sagt Tillmann Bartsch.
Publikation:
Wolfgang Stelly, Paulina Lutz, Jürgen Thomas, Barbara Bergmann, Tillmann Bartsch: Glaube und religiöse Praxis von (muslimischen) Jugendstrafgefangenen. Forum Strafvollzug 3/2021.
Kontakt:
Dr. Wolfgang Stelly
Universität Tübingen
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Professor Tillmann Bartsch
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