08.05.2025
Damit die Stimmen der Opfer von Krieg und Gewalt nicht vergessen werden
Am 8. Mai 2025 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 80. Mal. UT Alumna Dorothea Heiser, Germanistin, blickt auf die Stationen ihres bewegten Lebens zurück und erzählt, wie es dazu kam, dass sie zur Wegbereiterin einer außergewöhnlichen Gedichtanthologie wurde.
„Wie lebt man in Dachau?“
Diese Frage stellte mir ein belgischer Überlebender des Konzentrationslagers Dachau, als er viele Jahre später als Besucher an die KZ-Gedenkstätte Dachau zurückkehrte. Was hätte ich darauf erwidern können? Geboren wurde ich in Berlin, mitten im Zweiten Weltkrieg. Mein Vater starb vier Monate nach meiner Geburt in Ägypten, ohne, dass ich ihn kennenlernen konnte. Meine Mutter und ich verließen 1945 Berlin, um bei ihren Eltern, meinen Großeltern, in Göppingen zu leben. Hier, in Göppingen, besuchte ich die Grundschule und das Gymnasium.
Mit 16 Jahren erfüllte sich mein größter Wunsch: Ich wurde ausgewählt, für drei Monate als Austauschschülerin in Leeds, Yorkshire, in England zur Schule zu gehen. Ich war eine von 40 Schülerinnen und Schülern aus ganz Deutschland. Diese Zeit prägte mich ein Leben lang. Ich lebte bei einer englischen Familie in einem Vorort von Leeds. Ein bedeutender Anteil der Bevölkerung dieses Vororts war jüdisch. Als einzige deutsche Austauschschülerin an der Roundhay High School – ohne Schuluniform – musste ich täglich Fragen bezüglich meiner Nationalität und meiner Haltung und der meiner Eltern zum Nationalsozialismus beantworten. Zum ersten Mal fühlte ich, dass ich Deutsche war und damit auch eine besondere Verantwortung hatte. Ich versuchte, alle Fragen so gut wie möglich zu beantworten und entdeckte zu meiner großen Überraschung, dass ich überall herzlich aufgenommen wurde. Zum ersten Mal war ich auch bei jüdischen Familien eingeladen, von denen einige aus Deutschland geflohen waren. Hier erlebte ich, wie wichtig es ist, zu zeigen, dass es ein anderes Deutschland gibt.
Nach meiner Rückkehr aus England und dem Abitur in Göppingen begann ich mein Studium der Anglistik und Germanistik an der Universität Tübingen. Dort hörte ich Vorlesungen im Rahmen des Studium Generale bei Professor Walter Jens, die mich sehr beeindruckten. Bei Professor Roeder nahm ich an einem englischsprachigen Seminar teil und erhielt durch ihn ein Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung, um an der Universität in Leeds, England, einer Partneruniversität von Tübingen, mein Studium fortzusetzen.
Es war für mich ein unvergessliches Erlebnis, an denselben Ort zurückzukehren, an dem ich schon zur Schule gegangen war, zum ersten Mal in einem typisch britischen Studierendenwohnheim zu wohnen und das englische Studierendenleben intensiv kennenzulernen. Ich hatte zudem das große Glück, Prof. Douglas Jefferson, Experte für Henry James an der Universität Leeds, Deutschunterricht geben zu dürfen und von ihm viel über englische Literatur zu erfahren. All das beeindruckte mich so sehr, dass ich am liebsten für immer in England geblieben wäre. Trotz allem kehrte ich nach Deutschland zurück und schloss 1967 mein Magisterstudium an der Universität Freiburg ab. Ich volontierte in der Hörspielabteilung des SWR in Baden-Baden, arbeitete im Stuttgarter Klett-Verlag, bevor ich schließlich am Paracelsus-Gymnasium in Stuttgart Deutsch und Englisch unterrichtete. Im selben Jahr heiratete ich und zog mit meinem Mann ins Allgäu, wo unsere beiden Söhne geboren wurden. 1975 eröffnete mein Mann in Dachau seine Praxis als Psychiater, wo auch unsere Tochter geboren wurde. Bis dahin kannte ich Dachau nur als Namen im Zusammenhang mit dem Konzentrationslager – umso mehr überraschten mich der historische Altstadtkern und die Geschichte der Stadt, die sogar älter ist als die Münchens.
Der Bruder meiner Großmutter war als Sozialist in der Nazizeit verfolgt und ins KZ Dachau gebracht worden. Als wir dort lebten, bat mich sein Sohn, herauszufinden, wann sein Vater im KZ Dachau inhaftiert war. Nicht nur deshalb besuchte ich die Gedenkstätte öfter. Auch der Friedhof auf dem Leitenberg in Dachau, wo tausende Tote des Konzentrationslagers ohne Namen und persönliche Daten in Massengräbern beerdigt worden waren, berührten mich zutiefst. Eines Tages entdeckte ich dort ein kleines Schild an der halbverfallenen Mauer, auf dem zu lesen war: A mon père! Für mich war dies Anlass und Verpflichtung zugleich, den Überlebenden und ihren Angehörigen zu begegnen, wenn sie jedes Jahr am 29. April zur Gedenkfeier der Befreiung nach Dachau kamen. Bei diesen Begegnungen ergaben sich viele bewegende Gespräche. Überlebende aus Südfrankreich kamen in unser Haus, einige von ihnen luden uns später zu sich nach Südfrankreich ein. Aus diesen Begegnungen gingen auf Initiative Überlebender zwei Schulpartnerschaften und eine Gemeindepartnerschaft hervor.
1984 ergab sich eine Begegnung, die mich tief ergriff und mein weiteres Wirken maßgeblich beeinflusste: Der italienische Überlebende Mirco G. Camia überreichte mir seine Gedichte, die er nach der Befreiung über seine Zeit in Dachau verfasst hatte – darunter auch das einzige Gedicht des 16-jährigen Nevio Vitelli mit dem Titel „Mein Schatten in Dachau“. Nevio Vitello war mit ihm gemeinsam inhaftiert gewesen, starb jedoch drei Tage nach seiner Befreiung an den Folgen der Lagerhaft. Mirco G. Camia bat mich, dafür zu sorgen, dass diese Gedichte nicht vergessen werden würden. Diese Begegnung führte mich dazu, weitere Gedichte zusammenzutragen, die im Konzentrationslager entstanden. 1993 wurden diese vom Comité International de Dachau in der Anthologie Mein Schatten in Dachau – Gedichte und Biographien der Überlebenden und der Tote des Konzentrationslagers veröffentlicht.
Durch persönliche Kontakte zu Überlebenden war es mir zudem möglich, in vielen Fällen auf die konkreten Entstehungsbedingungen der Texte einzugehen. Diese Gedichte, in einer Extremsituation des Lebens entstanden, spiegeln vieles von dem wider, was Karl Röder, der zehn Jahre seines Lebens in den Konzentrationslagern Flossenbürg und Dachau verbrachte, in folgende Worte fasste: „Die Gedanken und Empfindungen schrien danach, niedergeschrieben zu werden… Im Lager gewann ich eine bedeutende Erfahrung: Keine Macht der Welt kann den Menschen als geistiges Wesen vernichten…“
Was haben sie gefühlt, was haben sie gedacht, die 200.000 Menschen verschiedenster Nationen, die das Schicksal zwischen 1933 und 1945 durch das Konzentrationslager Dachau geführt hatte? Zahlen und Fakten allein geben darauf keine Antworten. Erst wenn wir dem Einzelnen begegnen und Spuren seiner Gedanken und seines Seins entdecken, beginnen wir zu verstehen, dass auch Gedichte solche Spuren sind, die zu Begegnungen werden können. „Im Leid ist das Lied der Poesie wie ein Gesang, der befreit und bis zum Grund der Wahrheit vordringt…“, diese Charakterisierung der Gedichte, stammt von dem französischen Journalisten und Überlebenden des Konzentrationslagers Dachau Fabien Lacombe.
Mirco G. Camia, der italienische Autor, der mir 1985 das Titelgedicht der Anthologie übergab, berichtete, welchen Einfluss dieses einzige Gedicht des jungen Nevio auf sein späteres Leben hatte:
“Ich lernte Nevio in einem Krankenhaus in Dachau kennen, wo wir dasselbe Zimmer teilten. Nicht mehr als 20 Tage, zusammen mit anderen… Zwanzig Tage, die für mich so wichtig wie ein ganzes Leben waren… Wir haben in dieser Zeit nicht viel gesprochen, die wichtigsten Dinge des Leidens… Überhaupt nichts in Bezug auf unsere Zukunft: Wo war diese Zukunft? Alle beide waren wir innerlich schwer verwundet… Er mit seinen 17 Jahren mehr noch als ich: Hinter uns das Wissen um Dinge, gegen die wir uns wehren wollten, aber nicht wehren konnten… Da waren all die schrecklichen Erinnerungen mit allen offenen Wunden der Seele, die niemand heilen konnte. Wunden, die noch tiefer waren als die, die unsere Körper schwächten…Der Mensch, ist dies der Mensch?… Der Wert dieses Gedichtes von Nevio für mich: Es enthält alles… Es ist eine Wiedergeburt! Es gibt andere Menschen! …Nevio hat seine Worte nicht an die Deutschen, sondern an den Menschen gerichtet… Während des Aufenthalts im Krankenhaus hat er mit mir niemals über sein Gedicht gesprochen. Ich habe es erst drei Jahre später kennengelernt, auf der Todesanzeige, die ich von seinen Eltern zugesandt bekam, als sie mich über seinen Tod informierten.”
Walter Jens, mein ehemaliger Professor, und selbst Schriftsteller und Mitglied der Gruppe 47, unterstützte das Entstehen der Anthologie Mein Schatten in Dachau jahrelang und beschreibt im Vorwort die Gedichte der Anthologie als
„[…] ein Gedenken in vielen Sprachen und Erhaltung von Unverzichtbarem“ […] Botschaften, verborgen unter dem Zement eines Fußbodens, versteckt in einem Haarbüschel, eingegraben in Gehirne: mit dem Ziel, eines Tages, wenn die Tore sich öffnen, niederzuschreiben, gedächtnisgetreu, was in Dachau geschah. Schreiben im Sinne Kafkas, als Form des Gebets; das Gedicht als Ausdruck des Überlebenswillens; der Vers als die Gegen-Kraft des Gedankens. […] Und dennoch Freundlichkeit! Dennoch kein Hass auf die Nachfahren der Mörder, kein Menetekel „Dachau“… Stattdessen Hilfsbereitschaft trotz allem, um den Kindern und Kindeskindern deutlich zu machen, dass eine Zukunft im Zeichen der Mitmenschlichkeit dort unmöglich ist, wo man vergisst, was einmal in Dachau, in Buchenwald, in Ravensbrück geschah: millionenfacher Mord, der nicht auszulöschen, wohl aber – dies ist das Vermächtnis der Sammlung von Dorothea Heiser – zu bannen ist: nicht zuletzt durch die Poesie, die zeichensetzende und verweisungsmächtige Hüterin des Erinnerns: „In meinem Herzen leben Tote“.
1997 wurde in Mailand eine italienische Übersetzung der Anthologie veröffentlicht, an der Mirco G. Camia in seinen letzten Lebensjahren mitgearbeitet hatte. 2011 führte mich ein Besuch zurück an die Universität in Leeds. Vor der Reise hatte ich Kontakt zu Stuart Taberner (Universität Leeds) aufgenommen, einem Professor, der unter anderem zu deutscher Literatur und dem Holocaust forscht. Stuart Taberner lud mich ein, die Anthologie an die Universität Leeds vorzustellen. Die Studierenden und das Kollegium waren von den Werken sehr beeindruckt und so kam eine Kooperation für eine englische Übersetzung zustande. 2015 erschien die englische Übersetzung mit allen Originaltexten bei Boydell&Brewer in New York. Seit kurzem gibt dazu es einen englischen Podcast: https://newbooksnetwork.com/my-shadow-in-dachau
Die Frage “Wie lebt man in Dachau?” lässt sich nicht beantworten, doch geben die Gedichte der Anthologie Mein Schatten in Dachau bewegende Einblicke in das, was war, und was niemals vergessen werden darf. Die deutsche Ausgabe der Anthologie Mein Schatten in Dachau ist seit Jahren vergriffen. Vielleicht findet sich ein Verleger, der eine Zweitauflage zum 80. Jahrestag des Kriegsendes 1945 ermöglicht, damit die Stimmen dieser Opfer und aller Opfer von Krieg und Gewalt auch bei uns nie vergessen werden. Dies scheint heute, 80 Jahre nach Kriegsende, notwendiger denn je für eine bessere Zukunft der kommenden Generationen.
Dorothea Heiser
Kontakt zur Autorin
Dorothea Heiser, M.A., wohnhaft in Dachau
E-Mail: dorotheeheiserspam prevention@web.de