08.06.2022
„‚Frei leben – ohne Gewalt‘ gehisst!“
UT Alumna Christa Stolle engagiert sich seit Jahrzehnten für Menschen- und Frauenrechte. Wir trafen sie im Interview.
Die Bundesgeschäftsführerin und Vorständin von TERRE DES FEMMES Christa Stolle berichtet über ihr Studium in Tübingen, ihre Anfänge als Menschenrechts- und Frauenaktivistin sowie über aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen im Kampf für die Gleichstellung von Mädchen und Frauen.
Was haben Sie für eine Verbindung zur Universität Tübingen und warum haben Sie sich für ein Studium in Tübingen entschieden?
Ich habe von 1984 bis 1990 in Tübingen Ethnologie und Empirische Kulturwissenschaften studiert. Zuvor war ich an der Universität Bonn ab 1982, ich wollte aber unbedingt noch einmal den Studienort wechseln und eine andere Universität kennenlernen. Mein damaliger Freund und späterer Mann studierte in Tübingen. Als ich mit ihm durch die Innenstadt spazierte, war ich von der Schönheit Tübin-gens fasziniert und wusste: Hier möchte ich meine restliche Studienzeit verbringen. Zudem überzeugte mich die fortschrittliche und reformorientierte Ausrichtung des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaften zur Volkskunde und zur europäischen Ethnologie sowie seine wissenschaftliche und sehr praxis- und projektorientierte Arbeitsweise.
Letztendlich bin ich in Tübingen sehr viel länger geblieben als geplant. Ich habe hier meine Tochter zur Welt gebracht, die noch heute in Tübingen lebt.
Wie ist Ihr Engagement für Frauen- und Menschenrechte entstanden?
Als wir uns im Studium der Ethnologie mit Kulturen und Traditionen auseinandersetzten, wurde ich bereits mit sehr vielen frauenspezifischen Menschenrechtsverletzungen wie Brustbügeln, Menstruationsriten und Genitalverstümmelungen konfrontiert. TERRE DES FEMMES setzte sich schon seit der Gründung 1981 mit genau diesen Themen frauenspezifischer Verletzungen auseinander. Das war für mich der richtige Rahmen, diese Traditionen zu bekämpfen und in Frage stellen zu können. Dass der Verein TERRE DES FEMMES neben einer Menschenrechtsorganisation auch gleichzeitig eine aktive Frauenbewegung verkörperte, hat mich in meinem Engagement bestärkt.
Wie begann Ihre Tätigkeit bei TERRE DES FEMMES?
Mit einem Aushang an der Universität Tübingen im Jahr 1985: Es wurden Mitstreiterinnen und Mitstreiter für den Verein gesucht. Nach einer Phase der intensiven ehrenamtlichen Arbeit im Vorstand konnte dank der Finanzierung durch das Arbeitsamt 1990 eine hauptamtliche Stelle in Tübingen geschaffen werden. Das war die Chance für den Verein, wichtige Grundstrukturen aufzubauen. Und ich fand dadurch meine Heimat und Berufung, um mich weltweit für Menschenrechte, insbesondere für Frauen und ihre Selbstbestimmung, einzusetzen – bis heute. Ich hatte Zeit und ein Einkommen, um ein professionelles Fundraising, eine Verwaltung und die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit umzusetzen. Damals hatte der Verein gerade 100 Mitglieder, heute sind es über 2.700.
Bitte beschreiben Sie Ihre Vorstandstätigkeit
Als es noch keine Geschäftsstelle gab, waren die Aufgaben des dreiköpfigen Vorstands neben der PR-Arbeit, des Fundraisings und der allgemeinen Korrespondenz, die Mitgliederversammlungen einzuberufen und Briefe an die Politik zu schreiben. Dazu kam auch noch unsere aktive Kampagnenzeit. Meine erste größere Herausforderung war die Adler-Kampagne 1987, bei der wir uns für Textilarbeiterinnen der Firma Adler in Südkorea eingesetzt haben – für bessere Arbeitsbedingungen und die Bildung einer freien Gewerkschaft. Diese Kampagne ging durch alle Medien, als es in der Folge Brandanschläge auf Adler-Filialen in Deutschland gab, mit denen wir natürlich nichts zu tun hatten. Plötzlich musste ich mich als ehrenamtliche Vorstandsfrau verantwortlich zeigen und mit den Medien über die Geschehnisse sprechen. Das traf mich als junge Studentin unvorbereitet. Heute ist meine Vorstandstätigkeit mit 40 Mitarbeitenden in Berlin und vielen ehrenamtlich Tätigen deutschlandweit vergleichsweise routiniert und umfasst die Leitung der Bundesgeschäftsstelle.