Unter dem Titel "Universität Tübingen im Nationalsozialismus" ist ein umfangreicher Sammelband von 1136 Seiten erschienen. Er gibt den gegenwärtigen Forschungsstand wieder und umfasst Studien zum Alltag an der Universität, zu Verbrechen und zu Personen, zu einschlägigen Themen des Nationalsozialismus sowie Studien der Aufarbeitung dieser Zeit nach 1945. Der Band ist hervorgegangen aus dem 2001 gegründeten Arbeitskreis "Universität Tübingen im Nationalsozialismus". Er wurde von der Universität mit Personalmitteln und einem Druckkostenzuschuss gefördert.
Professor Dr. Urban Wiesing, Lehrstuhl für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen und Vorsitzender des Arbeitskreises, resümiert die Ergebnisse: "Die Geschichte des Nationalsozialismus und die Universitätsgeschichte müssen nicht neu geschrieben werden, aber wir haben zahlreiche neue Details und Perspektiven herausarbeiten können. Die traditionsreiche, hoch angesehene Universität Tübingen, ein Ort der Bildung und Wissenschaft, war offensichtlich nicht vor einem Rückfall in Barbarei geschützt. Forschung und Wissenschaft schützen offensichtlich nicht vor ungeheuerlichen Abweichungen von der Zivilisation."
Bei der Präsentation des Bandes im Juli sprach Rektor Professor Dr. Bernd Engler allen Herausgebern und Autoren des Bandes sowie den wissenschaftlichen Hilfskräften Oonagh Hayes und Jens Kolata, die die Redaktion des Bandes besorgt haben, den Dank der Universität aus. Er unterstrich, dass die Ergebnisse nur eine Zwischensumme darstellten und die Forschungen des Arbeitskreises weitergehen würden. Als nächstes stehe ein Bericht über die Zigeunerforschung an der Universität an. Engler sprach die Hoffnung aus, dass sich auch Disziplinen wie die meisten naturwissenschaftlichen Fächer, die in dem Sammelband fehlen, ebenfalls noch mit ihrer NS-Vergangenheit beschäftigen würden.
Die Beiträge des Bandes belegen, dass die große Mehrheit der Professoren in den Jahren 1933 bis 1945 mit Anpassung, (Selbst-)Gleichschaltung, Opportunismus oder innerer Emigration reagierte. Die Universität Tübingen hat keinen exponierten Vertreter des Widerstands hervorgebracht. So haben beispielsweise die Mediziner keinerlei Bedenken gehegt, ob die Zwangsterilisationen mit dem ärztlichen Ethos vereinbar wären.
Das Eingehen auf den Rassendiskurs des "Dritten Reiches" gehört sicherlich zu den wichtigsten Veränderungen, die sich an der Universität ereigneten. Viele Fächer nahmen rassenkundliche Themen auf und verarbeiteten sie in einer den neuen politischen Verhältnissen konformen Weise. Zu einem besonderen Schwerpunkt wurde dabei die universitäre "Judenforschung", die – so lässt sich zeigen – an eine lange Tradition christlich motivierter Judenfeindschaft anknüpfen konnte. So behauptete der katholische Dogmatiker Karl Adam, die Ziele des Christentums und des politischen Antisemitismus des Nationalsozialismus stimmten weitgehend überein. Keine andere Universität in Deutschland musste 1933 weniger Juden entlassen, weil bereits lange vorher die Anstellung von Juden verhindert worden war.
Neben dem Täterkomplex bilden die Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns einen Schwerpunkt des Sammelbandes. Die Zwangssterilisationen werden thematisiert, ebenso die Situation der Zwangsarbeiter und die Situation der wenigen Juden.
Als eine Konsequenz aus den Forschungen des Arbeitskreises wird die Universität sich in Abstimmung mit der Stadt Tübingen über ein integratives Konzept der Gedenkkultur an den zentralen Stellen von Universität und Stadt verständigen. Auch die kontinuierliche Einbeziehung der Ergebnisse in die universitäre Lehre ist eine bleibende Aufgabe.
Michael Seifert
Bibliographische Angaben: Urban Wiesing, Klaus-Rainer Brintzinger, Bernd Grün, Horst Junginger, Susanne Michl (Herausgeber): Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus. Franz Steiner Verlag, 2010 (Contubernium – Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 73). 1136 S. € 99, ISBN 978-3-515-09706-2. |
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