Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2021: Forschung

Die Masse der Geisterteilchen

In einem neuen Observatorium in China wollen Tübinger Wissenschaftler die Eigenschaften von Neutrinos erforschen

Warum sollte man wissen wollen, wie schwer ein Neutrino ist? „Es wird uns mehr über einen wesentlichen Teil des Standardmodells der Teilchenphysik sagen,“ erklärt Professor Tobias Lachenmaier, Leiter der Arbeitsgruppe Neutrinophysik am Physikalischen Institut der Universität Tübingen. „Diese Teilchen sind die Bausteine unseres Universums, und haben Auswirkungen auf viele Phänomene  der Astrophysik und Kosmologie. Daher ist es wichtig, sie zu verstehen.“

Lachenmaier, seine Kollegen am Kepler Center for Astro and Particle Physics der Universität und 600 andere Wissenschaftlern aus aller Welt versuchen diese Frage ein Stück weit zu beantworten. „Durch die Messung der Neutrinos können weitere wichtige physikalische Themen erforscht werden, wie etwa dunkle Materie im Universum, unbekannte Elementarteilchen und das Innere von Sternen.“

Neutrinos

Neutrinos gehören zu den leichtesten Elementarteilchen, die so schwach mit ihrer Umgebung interagieren, dass sie durch fast alles hindurchfliegen. Wegen ihrer sprichwörtlichen Unfassbarkeit haben sie den Spitznamen "Geisterteilchen". Man unterscheidet drei verschiedene Arten von Neutrinos: Elektron-Neutrinos, Myon-Neutrinos und Tau-Neutrinos.

Anders als ursprünglich angenommen, haben diese Teilchen eine Masse, sie ist für alle drei Neutrino-Arten unterschiedlich. Wie viel sie genau wiegen, ist jedoch bislang eine offene Frage. Das Projekt JUNO, an dem die Tübinger Physiker mitarbeiten, will erste Antworten auf diese Frage finden und gleichzeitig noch weitere Eigenschaften der Neutrinos untersuchen.

JUNO

Ein riesiger Öltank, 700 Meter unter der Erde, 53 Kilometer entfernt von zwei Kernkraftwerken in China. Das ist der Detektor des "Jiangmen Underground Neutrino Observatory", kurz JUNO. Im Jahr 2021 werden hier die Messungen zur Feststellung der Massenhierarchie der Neutrinos beginnen.
„JUNO sammelt Signale von Elektron-Antineutrinos, die aus den naheliegenden Kernkraftwerken kommen", sagt Axel Müller, Doktorand der Teilchenphysik. Zur Erklärung: Antineutrinos und ihr Gegenüber Neutrinos sind in fast jeder Hinsicht gleich, insbesondere ist ihre Masse gleich groß (siehe Info-Kasten unten). Deswegen kann man die Messergebnisse der Antineutrinos auf Neutrinos übertragen.

Der Standort in China ist laut Müller ideal, da dort in den kommenden Jahren mehrere leistungsstarke Kernkraftwerke in Betrieb gehen. „In diesen Kraftwerken werden bei der Spaltung von Uran jede Sekunde Trillionen dieser Antineutrinos freigesetzt. Aber JUNO wird nur etwa 80 pro Tag messen". Denn die meisten Neutrinos fliegen direkt durch den Detektor. Daneben haben die drei Neutrinoarten die Eigenschaft, dass sie sich in eine der anderen Arten verwandeln können. Die im Kernkraftwerk erzeugten Elektron-Antineutrinos können sich während ihres "Fluges" in Tau- oder Myon-Antineutrinos verwandeln. JUNO kann diese beiden Arten von Neutrinos nicht messen. 

Auch die Elektron-Antineutrinos kann der JUNO-Detektor nicht direkt messen, sondern er misst Licht: Obwohl Neutrinos durch fast alles hindurchfliegen, stoßen sie im Detektor manchmal mit einem Ölteilchen, mit welchen der Detektor gefüllt ist, zusammen. Dadurch wird Licht erzeugt, das die Anwesenheit der Elektron-Antineutrinos verrät. „Durch die Messung dieses Lichts, können wir die Energie und die Position der Antineutrinos rekonstruieren und über einen Zeitraum von sechs Jahren lassen sich diese Messungen zu einem Energiespektrum zusammenfassen. Dieses Spektrum liefert uns viele Informationen über die Eigenschaften der (Anti-)Neutrinos“, erläutert Müller.

Massenhierarchie

Die Eigenschaft der Neutrinos, sich in andere Typen verwandeln zu können, nutzen die Tübinger Physiker, um die Massenhierarchie zwischen den verschiedenen Neutrino-Typen zu bestimmen.  Lachenmaier: „Wir wollen das relative Verhältnis zwischen den Massen der drei Neutrinoarten bestimmen. Dafür gibt es zwei Modelle, die die Masse einer Neutrinoart gegen die der beiden anderen abwägen. In dem einen Modell ist eine Neutrinomasse schwerer als die beiden anderen, in dem anderen Modell ist sie leichter".

„Wir haben Computersimulationen eingerichtet, um vorherzusagen, welche Signale JUNO misst, wenn das eine oder das andere Modell richtig ist", ergänzt Müller. „Wenn wir wirklich mit den Messungen beginnen können, werden wir die Ergebnisse von JUNO mit diesen Modellen vergleichen, und auf diese Weise können wir die Hierarchie der Neutrinomassen bestimmen.

„Das Ziel von JUNO ist es, die Hierarchie der Neutrinomassen untereinander zu bestimmen, also welches das schwerste und welches das leichteste von ihnen ist. Andere Projekte wie das deutsche Projekt KATRIN versuchen, die genaue Masse des Elektron-Neutrinos zu bestimmen. Wenn wir diese Daten zusammenführen, können wir die genauen Massen der drei Neutrinotypen bestimmen.“

Vorbereitungen in vollem Gange

JUNO ist der erste Detektor, der groß und empfindlich genug ist, um die Massenhierarchie von Neutrinos auf diese Weise zu bestimmen. Zuerst müssen die ca. 17.000 Lichtdetektoren von JUNO in der Lage sein, die winzigen Lichtblitze einzufangen, die von den Neutrinos verursacht werden. Zusätzlich müssen Hintergrundsignale herausgefiltert werden. Axel Müller: „Neben Neutrinos gibt es noch andere Elementarteilchen, die im Detektor ein Lichtsignal verursachen können. Wir versuchen, diese so weit wie möglich zu filtern, zum Beispiel indem wir den Detektor unterirdisch im  Granitgestein aufbauen. Neutrinos können diese Granitschicht passieren und den Detektor erreichen, andere Elementarteilchen werden jedoch gestoppt.".

Müllers tägliche Arbeit in Tübingen besteht darin, die Hintergrundsignale, die der Detektor aufnehmen kann, am Computer zu simulieren. „Kernkraftwerke sind nicht die einzige Quelle für Neutrinos,“ sagt Müller. „Auch die Sonne, der Erdkern und Supernovae zum Beispiel produzieren sie. Die Simulation der Signale aus diesen Quellen ermöglicht es, zu bestimmen, welche Lichtsignale letztendlich für die Messung der Massenhierarchie der Neutrinos verwendet werden können. 

Annemarie Post

Elementarteilchen und ihre Antiteilchen 

Jedes Elementarteilchen hat ein Gegenüber: sein Antiteilchen. Diese Teilchen kommen gewöhnlich nicht in der Natur vor, sie können aber bei Kernreaktionen entstehen. Antiteilchen sind ihrem Gegenüber in fast jeder Hinsicht gleich. Zum Beispiel ist die Masse von Teilchen und den zugehörigen Antiteilchen gleich groß, so auch bei Neutrinos und Antineutrinos. Bei Teilchen, die eine positive Ladung haben, besitzt das Antiteilchen eine negative Ladung und umgekehrt. Neutrinos besitzen allerdings keine elektrische Ladung.