Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2021: Leute
Einer der besten Kenner des Landes
Zum Tod von Honorarprofessor Hans-Georg Wehling ein Nachruf von Martin Große Hüttmann
Wer Hans-Georg Wehling bei Vorträgen gehört und seine Bücher und Texte gelesen hat, erlebte ihn als einen feinsinnigen Beobachter und neugierigen Analytiker der Landes- und Kommunalpolitik, der die Dinge wie wenige auf den Punkt bringen konnte. So veranschaulichte er den Erfolg der Grünen im Südwesten, der im „tiefschwarzen“ Oberschwaben begann, mit einer Beobachtung, die er während des traditionellen Blutritts in Weingarten gemacht hat. Die in Polen geborene und als Kind mit ihren Eltern nach Deutschland gekommene grüne Bundestagsabgeordnete Agnieszka Brugger ist regelmäßig als Zuschauerin beim Blutritt, einer der größten Reiterprozessionen, die am Tag nach Himmelfahrt stattfindet. Dass eine junge grüne Bundestagsabgeordnete hier ganz selbstverständlich teilnimmt und das Kreuzzeichen schlägt, sagt laut Hans-Georg Wehling viel darüber aus, dass die Grünen im schwarzen und katholisch geprägten Oberschwaben wie auch im ganzen Land politisch und kulturell tief verwurzelt sind. Für ihn war seine Theorie einer regionalen politischen Kultur, die historisch tief verwurzelt und auch religiös geprägt ist, der Weg zur Analyse, die immer auch sozial-, mentalitäts- und kulturgeschichtlich ausgerichtet sein musste. Hermann Bausinger hat die Methode Wehling so beschrieben: „Probleme bis in ihre feinsten Verästelungen verfolgen“.
Er war einer der besten Kenner des Landes und bestens vernetzt im Land. Er kannte viele, die in Stuttgart und in den Landkreisen und Kommunen politische Verantwortung trugen. Viele suchten seinen Rat – vom Landrat bis hinauf zum Ministerpräsidenten. Auch Redaktionen und Medienleute schätzten sein unbestechliches Urteil. Die Stuttgarter Zeitung hat Hans-Georg Wehling in ihrem Nachruf als „Baden-Württemberg-Erklärer“ beschrieben, eine andere Zeitung gab ihm vor vielen Jahren den Titel „Der Papst der Kommunalpolitik“.
Hans-Georg Wehling hat studiert in Münster, Freiburg im Breisgau, Heidelberg und Tübingen. Dort hat er bei allen, die Rang und Namen hatten, Vorlesungen gehört: Geschichte bei Herbert Grundmann, Golo Mann (als Gastprofessor) und Heinz Gollwitzer. In Freiburg studierte er bei Gerhard Ritter und Arnold Bergsträsser; in Heidelberg waren es Werner Conze und Dolf Sternberger, 1962 kam er nach Tübingen. Hier waren es vor allem Theodor Eschenburg, sein späterer Doktorvater, aber auch Iring Fetscher und Gerhard Lehmbruch, die ihn prägen sollten. Nach Studienabschluss und Promotion kam Hans-Georg Wehling zur Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Dort war er 35 Jahre verantwortlich für zentrale Publikationsreihen der LpB, etwa die „Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs“, das in vielen Auflagen erschienene „Handbuch Kommunalpolitik“ oder die Zeitschrift „Der Bürger im Staat“. Hans-Georg Wehling hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die LpB deutschlandweit zu den wichtigsten Einrichtungen im Bereich der politischen Bildung wurde. Mit dem „Beutelsbacher Konsens“ hat er sich verbleibende Dienste erworben. Auf einer Tagung aller Landeszentralen für politische Bildung im Jahre 1976 in Beutelsbach hat er den nach dem Tagungsort benannten Grundkonsens der politischen Bildung zu Papier gebracht. Dieser Konsens wird oft als die „Magna Charta“ beschrieben, er verpflichtet die Bildungsarbeit auf das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot und darauf, die Schülerinnen und Schüler zur eigenständigen Urteilsbildung zu befähigen.
Im Juni 1978 wurde Hans-Georg Wehling zum Honorarprofessor am Institut für Politikwissenschaft ernannt. In seinen Seminaren hat er Studierenden die Landes- und Kommunalpolitik so erfolgreich vermittelt, dass viele von ihnen seine Themen in Doktorarbeiten vertieft haben oder auch in die praktische Politik gegangen sind. 1993 gehörte er zu der Gruppe von Tübinger Professoren um Rudolf Hrbek, die das Europäische Zentrum für Föderalismus-Forschung (EZFF) gegründet haben. Als Vorsitzender des Kuratoriums der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart hat er viele Jahre die Arbeit der Akademie begleitet.
Für sein Wirken weit über die Landesgrenzen hinaus wurde Hans-Georg Wehling mit dem Ludwig-Uhland-Preis (2003), dem Bundesverdienstkreuz am Bande (2010) und dem Friedrich-Schiedel-Wissenschaftspreis zur Geschichte Oberschwabens (2011) ausgezeichnet. Die Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl hat ihn 2018 zum Ehrensenator ernannt. Der Schiedel-Preis galt seiner Beschäftigung mit einem Landstrich, der ihn aufgrund seiner barocken Schönheit und ganz eigenen politischen Kultur und Geschichte besonders fasziniert hat. Deshalb ist es kein Zufall, dass Hans-Georg Wehling im letzten Jahr mit seiner Frau Rosemarie Wehling, die sein Interesse an der Landesgeschichte geteilt und zusammen mit ihm den Erfolgsband „Wegmarken südwestdeutscher Geschichte“ herausgegeben hat, nach Ravensburg gezogen ist. Dort verstarb Hans-Georg Wehling am 7. Oktober 2021 im Alter von 83 Jahren.
Das Institut für Politikwissenschaft verliert mit Professor Dr. Hans-Georg Wehling einen sehr geschätzten Kollegen und einen bei den Studierenden beliebten akademischen Lehrer.