Uni-Tübingen

TP7: Der antike Literaturkanon im Kontext des Neuhumanismus und der Bildungs- und Universitätsreformen bis etwa 1850

Zusammenfassung

Die griechischen und lateinischen Klassiker haben bereits in der Antike eine so große Autorität entfaltet, dass der Vergleich mit sakralisierten Texten von Religionen gezogen wurde. Daran änderte auch das Christentum wenig. Die Autorität der antiken Schriften war zeitweise größer, zeitweise kleiner, wurde zeitweise in ein christliches Bildungsmodell integriert, zeitweise misstrauisch beäugt, blieb aber immer erhalten. Darüber hinaus waren die lateinischen Klassiker unverzichtbar für die aktive Erlernung der lateinischen Sprache. Eine grundlegende Wende findet zwischen etwa 1750 und 1850 statt, als die antike Kultur zum ersten Mal weitgehend jeden direkten gesellschaftlichen Anwendungsbezug verlor. Die antiken Texte sind jetzt keine Autoritäten mehr für Philosophie und Naturwissenschaften; der aktive Gebrauch der lateinischen Sprache und die Orientierung der Schulbildung an der antiken Rhetorik werden abgeschafft. Dennoch erreicht im sog. Neuhumanismus die Begeisterung für die Antike einen neuen Höhepunkt. Griechisch und Latein standen im Zentrum des neu aufgebauten und konsequent säkular organisierten Gymnasialwesens, die (Klassische) Philologie wird zum Ausgangspunkt einer neuen Epoche der Geisteswissenschaften an den Universitäten. Hier hat eine grundlegende Neubewertung der antiken Texte stattgefunden, die im Sinne des Forschungsverbundes als Resakralisierung gedeutet wird. Gleichzeitig versteht sich jedoch die Universitätsphilologie zunehmend als historisch-kritische Wissenschaft, welche die Texte aus zeitloser Idealität in ihren historischen Kontext zurückführt und damit zu einem Gegenstand neben anderen macht, was de facto einen Prozess der Desakralisierung einleitet. Die disziplinäre Bindung der Philologie an den professionellen Klassischen Philologen schafft überdies eine Expertenkultur, die dem Gedanken einer allgemeinen Bildung an der Antike entgegensteht. Die Parallelen zur Entwicklung des Religions- und Bibelverständnisses in der Theologie liegen auf der Hand; während aber dort das Verhältnis von historisch-kritischer Textexegese und Religion ausführlich diskutiert wurde, ist das Verhältnis von wissenschaftlicher Philologie und allgemeiner Menschenbildung an der Antike bisher allenfalls marginal thematisiert worden. Das Projekt versucht, dieses Verhältnis genauer zu analysieren, indem zum ersten Mal auf breiter Basis gefragt wird, was die Inhalte und Ziele philologischer Tätigkeit in der Zeit des Neuhumanismus überhaupt waren. Die bisherige Philologiegeschichte ist hier insofern einseitig verfahren, als sie die Leistungen in den Vordergrund stellte, die sich aus einem modernen wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick heraus als zukunftsweisend erwiesen haben. Erst ein vollständigeres Bild erlaubt es, den Prozess der Resakralisierung des Altertums im Neuhumanismus im Kontext der Hermeneutik antiker Texte genauer zu analysieren und methodisch zu anderen Prozessen der Sakralisierung und Desakralisierung gewinnbringend in Bezug zu sehen.


Team

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Prof. Dr. Jürgen Leonhardt
Philosophische Fakultät | Philologisches Seminar
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