Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2023: Forum
Versöhnung der Religionen durch gemeinsame Lektüre der heiligen Schriften
Ein Interview mit dem Lucas-Preisträger Professor Peter Ochs
„Reconciliation of religions through shared scriptural study“ (English version)
Anfang Mai ist der amerikanische Judaist Peter Ochs mit dem Dr. Leopold Lucas-Preis 2023 ausgezeichnet worden. Der Preis wird jährlich von der Evangelisch-Theologischen Fakultät im Namen der Universität Tübingen verliehen. Die Fakultät würdigt damit die Verdienste von Peter Ochs im Dialog zwischen Judentum, Christentum und Islam. Wolfgang Krischke hat ihn interviewt.
Herr Prof. Ochs, Sie gehören zu einer Gruppe von Judaisten, die eine Methode entwickelt haben, die als „Scriptural Reasoning“ / „Schriftbasierte Argumentation“ bekannt geworden ist. Ein wesentliches Ziel dieses Ansatzes ist es, die Versöhnung zwischen Christen, Juden und Muslimen voranzubringen. Was bedeutet „Scriptural Reasoning“, abgekürzt SR, und welche konkreten Wirkungen haben Sie damit erzielt?
Dem US-amerikanischen Meinungsforschungsinstitut Pew zufolge nimmt interreligiöse Gewalt stetig zu. Folgt daraus nun, dass starke Religiosität gefährlich ist? Eine Vereinigung muslimischer, jüdischer und christlicher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begann 1994 verschiedene Hypothesen zu überprüfen: Eine lautete, dass es kontraproduktiv ist, wenn heutzutage Diplomaten religiöse Gruppen ersuchen, ihren Glauben auszublenden, sobald sie am Verhandlungstisch sitzen. Eine andere, dass die größte Ressource, um Frieden zwischen den Religionen zu stiften, in der Tiefe eben dieser religiösen Traditionen liegt, in ihrer altüberlieferten Praxis, die heiligen Schriften auszulegen.
Um ihre Hypothesen zu überprüfen, haben diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das “Scriptural Reasoning” (SR) entwickelt. Dabei geht es um ein gemeinsames Studium der Schriften über die Grenzen der sehr unterschiedlichen religiösen Überlieferungen hinweg. Beim Scriptural Reasoning kommentieren die Gläubigen in kleinen Gruppen Abschnitte aus jeder der verschiedenen Schrifttraditionen. Es gibt keine Hierarchie in den Gruppen, jeder kann aus seiner konfessionellen Zugehörigkeit heraus sagen, was ihn bewegt und dann hören, was die anderen zu sagen haben. Tausende von solchen Studien-Sitzungen haben bereits stattgefunden, mit Hunderten von Gruppen weltweit. Erfahrungsgemäß scheiden zehn Prozent der Teilnehmenden nach der ersten Sitzung aus, aber neunzig Prozent machen weiter – und zwar oft über Monate hinweg in vierzehntägigen Sitzungen. Die meisten berichten, dass diese Erfahrung ihren Blick auf die eigenen religiösen Schriften, aber auch auf die der anderen Überlieferungen vertieft hat. In den USA und Großbritannien gibt es Dutzende von SR-Gruppen, an denen Schulkinder ebenso wie Gläubige vieler Religionsgruppen teilnehmen. Etliche Universitäten auf dem amerikanischen Kontinent, in Europa und im Nahen Osten haben Lehr- und Forschungsprogramme in diesem Bereich entwickelt, unter ihnen auch das Zentrum für Islamische Theologie (ZITh) der Universität Tübingen. Und SR-Studiengruppen in China, Indonesien, Indien, Australien und anderen Ländern haben für eine Verbreitung schriftbasierter Untersuchungen sowohl unter den asiatischen wie auch den abrahamitischen Religionen gesorgt.
Führt die schriftbasierte Argumentation denn notwendigerweise zu einer Stärkung religiöser Gemeinsamkeiten? Oder kann sie auch Konfliktlinien zutage fördern?
SR zielt nicht darauf, eine Übereinstimmung zwischen den Religionen über elementare Glaubensinhalte oder das Wesen von Religion herzustellen. Es geht vielmehr darum, Formen des Schriftstudiums zu fördern, die den tiefen religiösen Unterschieden gerecht werden. Die Teilnehmenden sollen befähigt werden, ihre tiefempfundenen Lesarten der heiligen Worte zum Ausdruck zu bringen, statt sie zu verbergen. SR bestreitet die heute weit verbreitete Ansicht, dass Menschen, die im traditionellen Sinn religiös sind, einander nicht tolerieren können und dass religiöse Gruppen ohne die Hilfe weltlicher Vermittler nicht miteinander ins Gespräch kommen können. Tausende von interreligiösen Studien-Sitzungen über dreißig Jahre hinweg haben gezeigt, dass die Ehrfurcht, die viele Gläubige vor den heiligen Worten empfinden, eine bessere Voraussetzung für den Austausch bietet als Verhandlungstische, die von religiösen Texten und jedem Bezug auf religiöse Werte ‚gesäubert‘ sind. Während der vergangenen drei Jahrzehnte sind die diplomatischen Versuche von Dritten, religiöse Spannungen zu entschärfen, meistens gescheitert. SR bietet keine Verhandlungsrunden, sondern Studienkreise für heilige Texte. Worte des Glaubens und der Werte erfüllen die Luft. Und entgegen allen Erwartungen: Diese Atmosphäre hat die religiösen Teilnehmer viel stärker getröstet und bestärkt als sie zu verunsichern.
Welche Rolle spielt die Religion als Ursache in islamisch-christlichen und islamisch-jüdischen Konflikten im Vergleich zu politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren? Anders formuliert: Kann ein religiöser, auf den heiligen Schriften basierender Ansatz überhaupt zu den Wurzeln dieser Konflikte vordringen?
Dort, wo heute harte Konflikte bestehen, zeigt sich ein bestimmtes Muster: Die rivalisierenden religiösen Gruppen neigen dazu, die traditionelle Praxis einer auf Überlieferung beruhenden Erörterung dem Gehorsam gegenüber den Forderungen ihrer politischen Führer zu opfern. Religiöse Sprecher rechtfertigen diese Forderungen oft durch autoritative, also maßgebliche Zitate aus den heiligen Texten. Diese Zitate sind dürftig, sie werden aus den komplexen Zusammenhängen überlieferter Rechtsprechung oder Ethik herausgelöst und in den Kontext einer politisch aufgeladenen Rhetorik gestellt. Für solche Gruppen kommt SR nicht in Frage. Deshalb haben wir aus diesem Ansatz heraus ein anderes friedenschaffendes Instrument entwickelt: eine Art diagnostisches Frühwarninstrument, das vorhersagt, wie sich religiöse Gruppen in Konfliktzonen demnächst verhalten werden. Für jeden der Akteure ermittelt das Instrument sprachliche Anzeichen für neun Arten eines wahrscheinlichen Gruppenverhaltens: von gewalttätig über vorsichtig zu bedachtsam und dialogorientiert bis hin zu internem Ordnungsverlust. Das Instrument empfiehlt dementsprechend neun Arten der Friedensstiftung zwischen den Gruppen. Dazu gehört die Empfehlung, Vertreter aller Gruppen außer den gewaltbereitesten in die Teams zur Friedensstiftung aufzunehmen. Über „Ursachen” von Konflikten machen wir auf der Basis von SR-Erkenntnissen keine Aussagen. Wir sehen keine Belege dafür, dass Friedensstifter mit ihrem Versuch, solche vermeintlichen Ursachen auszuräumen, interreligiöse Gewalt beseitigt haben. Unser Ziel ist strikt funktional: die Aktionen vorhersagen, die jede Gruppe höchstwahrscheinlich durchführen wird, und dann Empfehlungen für geeignete Reaktionen zu geben.
Religiöse Fundamentalisten berufen sich auf heilige Schriften, um naturwissenschaftliche Entdeckungen zu bestreiten. Ein Beispiel ist die Ablehnung der Evolutionstheorie durch die Kreationisten. Gibt es einen Widerspruch zwischen den religiösen Fundamenten und den Erkenntnissen moderner Wissenschaft, der letztlich unauflöslich ist?
Das Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft bildet einen Schwerpunkt meiner Lucas-Vorlesung [gehalten am 9. Mai 2023 anlässlich der Preisverleihung]. Ich folge den Lehren des rabbinischen Führers und Physikers Hasdai Crescas, der von 1340 bis 1410 lebte. Ihm zufolge korrelieren die Torah – die göttliche Unterweisung – und die Naturwissenschaft als die Erforschung der Schöpfung. Religiös gesprochen heißt das: Gottes Wort manifestiert sich sowohl in der Schöpfungsordnung – „maaseh breshit“ – als auch in der Unterweisung – „Torah“ – durch die Schrift. In ihren Kommentierungen der Heiligen Schrift schreiben die rabbinischen Weisen jedem Wort mehr als eine Bedeutung zu, denn die Bedeutung eines Wortes kann sich in jeder Situation des irdischen Lebens etwas anders darstellen. Für die Weisen ist Gottes Wissen unendlich, dasjenige des Menschen aber endlich. Bei der Erforschung der Worte der Schrift beschränken sich selbst die klügsten Gelehrten auf die Frage: „Was sagen uns diese Worte im Hier und Jetzt?“ Crescas lehrte, dass der Glaube an Gott bedeutet, darauf zu vertrauen, dass wir immer mehr lernen über Gottes Wort in der Torah und über Gottes Worte in der Schöpfung, wo jedes Geschöpf ein Wort Gottes ist. Crescas war nicht nur Rabbiner, sondern auch der führende Mathematiker und Physiker seiner Zeit. Er hat eine Mathematik der räumlichen und zeitlichen Unendlichkeit geschaffen, die einige Gedankengänge der Elementarteilchenphysik des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt. Crescas lehrte, dass der Physiker auch dem Schöpfer vertrauen sollte und darauf, dass es immer Neues über das Universum zu lernen gibt. In seiner Physik bezog Crescas die Darstellung göttlicher Unendlichkeit in der Heiligen Schrift auf die Unendlichkeit des Universums. Und in seinen Abhandlungen über rabbinische Rechtsprechung verwendet er einige Elemente seiner Mathematik, um die Unendlichkeit der Torah zu erfassen.
In Ihren Arbeiten nimmt Charles Sanders Peirce eine wichtige Rolle ein, der von 1839 bis 1914 lebte und den man vor allem als Begründer der modernen Zeichentheorie kennt. Welche Verbindungen gibt es zwischen Ihren Forschungen und den Arbeiten von Peirce?
Die öffentlichkeitsorientierten Arbeiten meines Forschungsteams zu interreligiösen Beziehungen stützen sich auf fachphilosophische und formallogische Arbeiten, aus denen wir Modelle ableiten, wie Argumentationen aus der Schrift-Lektüre hervorgehen und wie religiöser Sprachgebrauch künftiges Gruppenverhalten signalisiert. Dazu gehört zum einen Charles Peirce, der große amerikanische Philosoph, vor allem in seiner Rolle als Wissenschaftstheoretiker, Vertreter des Pragmatismus und der Semiotik - derzufolge zu wissen bedeutet, Zeichen zu interpretieren. Wir wenden die Peirce’sche Semiotik auf das schriftbasierte Argumentieren an. Dabei stützen wir uns auch auf Denker der theologischen Überlieferung wie Hasdai Crescas, Augustinus und südasiatische Denker wie Shah Wali Allah und ʿUbayd Allāh Sindhī. Sie alle setzen Religion und Wissenschaft in Beziehung zueinander und sie alle entnehmen den Worten der heiligen Schriften und den Gegenständen der Wissenschaft nicht nur eine Bedeutung, sondern ein ganzes Spektrum an Bedeutungen, die in unterschiedlichen Zusammenhängen Unterschiedliches aussagen.
Dr. Leopold-Lucas-Preis
Mit dem Dr. Leopold-Lucas-Preis werden Menschen ausgezeichnet, deren wissenschaftliches Werk die Beziehungen zwischen Menschen und Völkern fördert und sich um die Verbreitung des Toleranzgedankens verdient gemacht hat. Der Preis wurde 1972 zum Gedenken an den jüdischen Gelehrten und Rabbiner Dr. Leopold Lucas gestiftet, der 1943 in Theresienstadt durch das NS-Regime ermordet wurde. Weitere Informationen: