Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2025: Forschung
„Erinnern und Demokratie“: Wie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sich zur historischen Bildung einsetzen lassen
Anfang Oktober findet in Tübingen der „Tag der Zeitzeug:innen 2025“ statt
Die Bildungsforscherin und Historikerin Dr. Christiane Bertram hat für ihre „Generationenprojekte“ Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in Ost und West zur deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte interviewen lassen. Sie untersucht am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung der Universität Tübingen, wie sich diese Oral History-Quellen für eine gesamtdeutsche Erinnerungskultur und für ein besseres Geschichtsverständnis – in der Schule wie auch in der Erwachsenen- und Breitenbildung – einsetzen lassen.
Sie leiten den Bereich „Historisches Lernen und Demokratiebildung“ am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung. Warum sind historisches Denken und Geschichtsverständnis wichtig für unsere Demokratie?
Wir brauchen Geschichte und ein Verständnis für Geschichte, um zu verstehen, wie die Demokratie und insbesondere unsere bundesdeutsche Demokratie entstanden sind.
Im Mittelpunkt meiner wissenschaftlichen Arbeit steht die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte. Für ein besseres Verständnis der Teilung in Ost- und Westdeutschland ist es wichtig, die Geschichte zu kennen: Die Teilung war eine Folge der NS-Diktatur, und im Osten Deutschlands wurde die Diktatur nach dem Krieg nochmals 40 Jahre fortgeführt, als sozialistische Diktatur. Und bis heute – 35 Jahre nach der Wiedervereinigung – sehen wir beim Einkommen, bei den Renten, beim Vermögen, in den Einstellungen oder im Wahlverhalten große Unterschiede zwischen Ost und West.
In Westdeutschland gibt es dafür fast kein Bewusstsein, weil sich hier durch den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung nicht viel verändert hat. In Ostdeutschland wurde das Leben dagegen komplett umgeworfen und nicht unbedingt in einer Weise, wie es die Menschen erwartet oder erwünscht haben.
Wie groß ist Ihrer Einschätzung nach aktuell das Interesse an Geschichte und historischem Lernen?
Geschichte interessiert die Menschen, heute genauso wie vor 30 oder 40 Jahren. Und es gibt immer wieder Trends, dass bestimmte Epochen auf ein verstärktes Interesse stoßen, so wie zuletzt der Mittelalter-Hype.
Gleichzeitig sehen wir, dass historische Narrative wieder verstärkt von der Politik instrumentalisiert und missbraucht werden, etwa bei der Legitimierung von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine.
Zu jeder historischen Epoche gibt es viele Darstellungen, viele Geschichten und natürlich auch unterschiedliche Deutungen. Das zeigt sich besonders in Lebensgeschichten und Zeitzeugenberichten, mit denen ich häufig arbeite. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind Personen, die von ihren Erinnerungen an die Vergangenheit erzählen. Wir kennen sie vor allem aus der Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus, doch auch die Zeit der Teilung und die Erfahrung der DDR-Diktatur sind Themen, zu denen oft Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in der Schule befragt werden. Für die Nutzung dieser Berichte im Unterricht, ist es wichtig, zu trennen, was Fakten sind und was subjektive Erlebnisse und Berichte. Das geht nur mit einem gewissen Geschichtsverständnis.
In Ihrer Forschung arbeiten Sie viel mit Zeitzeugen und Methoden der Oral History…
Ich habe früher als Geschichtslehrerin gearbeitet und auch meine Arbeit als Bildungsforscherin zielt darauf ab, wie man Geschichte und historisches Denken im Unterricht besser vermitteln kann. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen spielen generell in der Geschichts- oder Erinnerungskultur eine große Rolle und sie gerade sind für Schülerinnen und Schüler sehr motivierend. Es ist wichtig, mit ihnen in der Schule zu arbeiten.
Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bilden eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Sie wollen ihre Geschichte erzählen und uns oft auch eine Botschaft für die Zukunft mitgeben. Man kann an ihnen gut historisches Denken lernen, gerade weil sie in ihren Erzählungen so perspektivisch und subjektiv sind.
Aber in der Geschichtsforschung und Geschichtsdidaktik brauchen wir zur Einordnung viele verschiedene Darstellungen und zudem den historischen Kontext, der über Erzählungen und Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hinausgeht. Dinge, an die sich diese gar nicht erinnern oder die sie nicht mitbekommen haben. Denn es reicht eben nicht, nur eine Zeitzeugin oder einen Zeitzeugen zu befragen, um zu wissen, wie es war.
Einen Historiker bzw. eine Historikerin kann man sich wie Sherlock Holmes vorstellen, der nicht nur einen, sondern mehrere Zeitzeugen befragt, der immer weiter recherchiert und versucht, den Zusammenhang herzustellen – das sollten auch die Lernenden verstehen.
„Die Lebensgeschichten von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen berühren emotional, sie irritieren, sie schaffen Verbindungen oder können Orientierung stiften. Vor allem aber fördert der Austausch über verschiedenen Erinnerungen an eine gemeinsam erlebte Zeit das Verständnis für andere Perspektiven – eine zentrale Fähigkeit für das Zusammenleben in einer Demokratie.“
Christiane Bertram
Erzählen Sie etwas mehr über Ihre Forschung an der Schnittstelle zwischen Geschichte, Schule und Bildungsforschung
Ich habe in den letzten Jahren zwei Oral History-Projekte zur Erinnerung an die deutsch-deutsche Vergangenheit durchgeführt, die sogenannten „Generationenprojekte“. Dafür haben wir in lebensgeschichtlichen Videointerviews Menschen befragt, die 1975 bzw. 1961 im Osten und Westen Deutschlands geboren worden sind. Im Mittelpunkt steht dabei ihr Erleben der Teilung, des Mauerfalls und der Transformationszeit nach 1990.
Wir stellen die lebensgeschichtlichen Videointerviews als Oral History-Quellen in dem „Archiv deutsches Gedächtnis“* (Link im Infokasten am Ende des Beitrags) an der FernUniversität in Hagen allen Forschenden zur Verfügung. Zudem habe ich selbst die Interviews mit qualitativen Methoden bezogen auf die Erzählweisen und die verwendeten Stereotype ausgewertet und hierzu publiziert.
Darüber hinaus wurden aus den Videos künstlerische Videoinstallationen gestaltet, die bald in der Wanderausstellung „Generationen verbinden“* in Ost- und Westdeutschland zu sehen sein werden. Bei den Videoinstallationen werden aus den sehr langen Zeitzeugen-Interviews thematische Filme mit einer Länge von circa einer Stunde sowie Einzelvideos mit einer Länge von ca. 20 Minuten zusammengeschnitten. Die Zeitzeugen und Zeitzeuginnen erzählen sich in der Installation quasi gegenseitig ihre Geschichten: von der Kindheit, der Sozialisation, der Erfahrung des Mauerfalls bis zu ihrer Einschätzung der Gegenwart. Die Videoinstallationen sind ein wichtiger Beitrag für die Erinnerungskultur, wir zeigen sie an öffentlichen Orten und bringen dadurch Menschen aller Couleur zusammen.
In einer großen DFG-Studie* haben wir außerdem untersucht, welchen Einfluss der Einsatz von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auf den Lernerfolg und das Geschichtsverständnis von Schülerinnen und Schülern hat. An dieser Studie haben 61 Schulklassen teilgenommen, ihre Auswertung steht kurz vor dem Abschluss.
In einigen Klassen kamen die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen live in den Unterricht, in anderen wurden die 20-minütigen Videointerviews eingesetzt. Die Unterrichtseinheiten rund um die Transformationszeit nach 1989 bestanden jeweils aus drei Doppelstunden: in der ersten wurde das Thema vorbereitet, in der zweiten kamen die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu Besuch bzw. wurden die Videos gezeigt, und in der dritten Doppelstunde stand die Reflexion sowie die Einordnung und Kontextualisierung im Fokus. Konkret haben wir geschaut, welchen Unterschied es macht, ob wir mit Live-Zeitzeugen oder mit Videointerviews arbeiten.
Was sind die Ergebnisse der DFG-Studie?
Live-Begegnungen involvieren Schülerinnen und Schüler stärker und das wiederum macht es für sie schwerer, kritische Distanz zu den Zeitzeuginnen bzw. Zeitzeugen zu bewahren. Diese ist aber notwendig, um sie als Quelle angemessen einordnen zu können und zu verstehen, dass sie nur ein Baustein der Geschichte sind. Das hat auch unsere Studie bestätigt: Unmittelbar nach der Begegnung hatten die Lernenden in der Live-Gruppe die Perspektivität von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen weniger gut verstanden. Diesen Unterschied bezogen auf die grundsätzliche Einsicht in die Perspektivität fanden wir nicht mehr nach der letzten Doppelstunde der Unterrichtseinheit.
Den Schülerinnen und Schülern hat es mehr Spaß gemacht, mit Live-Zeitzeugen zu arbeiten als mit den Videointerviews. Abgesehen davon haben sie alle ähnlich gut gelernt und ihre Lerneffekte ähnlich eingeschätzt, hier gab es statistisch keine signifikanten Unterschiede. Zukünftig wollen wir weiter untersuchen, welchen Unterschied es macht, welche Geschichte erzählt wird, ob sie beispielsweise sehr dramatisch oder eher alltäglich ist.
In dem DFG-Projekt haben wir unmittelbar nach dem Besuch der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen einen Fragebogen eingesetzt, in dem erfasst wurde, wie die Schülerinnen und Schüler die Begegnung empfunden haben. Ausgehend hiervon haben wir einen Fragebogen für die Praxis entwickelt, der dabei hilft, nach der Begegnung mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen die Erfahrung von Authentizität und den Umgang damit zu reflektieren. Dieser Bogen wird zum Beispiel in der Gedenkstätte Hohenschönhausen* sowie vom dortigen koordinierenden Zeitzeugenbüro eingesetzt. Auf dem „Generationenportal“*, einem Angebot des Landesbildungsservers Baden-Württemberg, stehen dieser Fragebogen, die Unterrichtseinheit und Videos der DFG-Studie und weitere erprobte Unterrichtseinheiten und Videos der „Generationen“-Projekte allen Interessierten frei zur Verfügung.
Wie sind Sie bei der Erstellung dieser Generationen-Interviews methodisch vorgegangen?
Wir haben zunächst Aufrufe in den Medien – in Tageszeitungen, Wochenzeitungen, auf Social Media – gestartet, um Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zu finden. Aus den Bewerbungen haben wir nach bestimmten Kriterien Interviewpartner ausgesucht, wichtig war für uns insbesondere eine möglichst große Varianz hinsichtlich der Bildungsabschlüsse, aber auch der politischen Orientierung. Dafür haben wir zum Beispiel auch die Sonntagsfrage (welche Partei würden Sie wählen, wenn…) gestellt, damit wir in den Interviews nicht immer nur eine Sichtweise haben.
Für die Videointerviews haben wir anschließend einen Leitfaden entwickelt. Von vornherein war das Ziel, das aus den Interviews auch Videoinstallationen entstehen. Deswegen haben wir nicht selbst die Kamera draufgehalten, sondern mit professionellen Videokünstlerinnen zusammengearbeitet. Diese haben mit den Zeitzeugen und Zeitzeuginnen ein lebensgeschichtliches Interview geführt. Manche erzählten auf die offene Einstiegsfrage anderthalb Stunden über ihr Leben, andere waren bereits nach zehn Minuten am Ende. Im zweiten Teil des Interviews stellten die Interviewer Nachfragen und vertiefende Fragen, so wie man es üblicherweise in der Oral History macht.
Sprechen wir über den Tag der Zeitzeug:innen Anfang Oktober…
Der „Tag der Zeitzeug:innen“ steht in diesem Jahr unter dem Motto „Erinnern und Demokratie“. Er findet am 1. und 2. Oktober statt, ganz bewusst zeitnah zum 35. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober.
Es ist vor allem eine Tagung für Fachleute, für Forschende, Lehrkräfte und Multiplikatoren der historisch-politischen Bildung, ist aber auch für die Öffentlichkeit gedacht. Ich persönlich hoffe auf viele Besucherinnen und Besucher aus Tübingen – aus der Universität und aus der interessierten Öffentlichkeit.
Die Erinnerungen an die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands sind für Menschen, die Ost- bzw. Westdeutschland aufgewachsen sind, sehr unterschiedlich. Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften erforschen die Zeit der Teilung, den Verlauf der Transformationszeit und die Auswirkungen auf die Gesellschaft heute. Die Geschichtsdidaktik und die Bildungsforschung untersuchen hingegen, wie die Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sinnvoll in Bildungskontexte eingebettet werden können.
Ich habe namhafte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen eingeladen, die sich mit dem Thema Transformationszeit beschäftigen und denen die deutsch-deutsche Geschichte und Erinnerungskultur wichtig ist. Unter anderem werden Prof. Dr. Detlef Pollack (Religionssoziologe), Prof. Dr. Christina Morina (Zeitgeschichte), Prof. Dr. Dirk Oschmann (Literaturwissenschaft), Prof. Dr. Aleida Assmann (Literatur- und Kulturwissenschaft) und Dr. Anna Lux (Geschichte und Soziologie) mit Lehrkräften sowie mit Multiplikatoren und Multiplikatorinnen der historisch-politischen Bildung diskutieren.
Der erste Tag ist zugleich als "Landesfachtag" für Fortbildner und Fortbildnerinnen für das Fach Geschichte in Baden-Württemberg verpflichtend und wird als Lehrkräftefortbildung des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) anerkannt.
Der zweite Tag ist als ein Vernetzungstag gedacht, dabei erweitern wir auch die Perspektive bei der Arbeit mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen in Richtung Antisemitismus – gestern und heute – und arbeiten hier mit dem neu gegründeten Institut für Rechtsextremismus (IRex) zusammen.
Ein besonderes Highlight ist die Vernissage unserer neuen Videoinstallation „Eine Geschichte der Deutschen? Einschlüsse und Ausschlüsse in der Erinnerungskultur“* am Abend des 1. Oktober. Hierzu laden wir besonders auch die gesamte interessierte Öffentlichkeit ein.
Das Interview führte Maximilian von Platen
*Weiterführende Links und Informationen
- Stiftung Berliner Mauer
- Gedenkstätte Hohenschönhausen
- Koordinierendes Zeitzeugenbüro
- Bundesstiftung „Aufarbeitung der SED-Diktatur“
- Generationenportal
- Archiv Deutsches Gedächtnis
- Generationenportal
Die ca. 20-minütigen Videos aus den beiden Oral History-Projekten „Generation 1975: Mit 14 ins neue Deutschland“ und „Generation Mauerbau“ stehen auf dem “Generationenportal” für alle zur freien Nutzung zur Verfügung. Hier finden sich auch die Unterrichtseinheiten, die bisher auf Basis der Generationen-Interviews entwickelt wurden.
Das Generationenportal ist ein Angebot auf dem Landesbildungsserver des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg. Link zum Generationenportal - Archiv Deutsches Gedächtnis
Die lebensgeschichtlichen Interviews stehen Forschenden auf dem „Archiv Deutsches Gedächtnis“ zur Verfügung. Link zum Archiv Deutsches Gedächtnis - Die gemeinsam mit der Stiftung Berliner Mauer* erstellte Videoinstallation „Generation 1975: Mit 14 ins neue Deutschland“ eine Videoinstallation wurde bereits im Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Stuttgart, in der „Erinnerungsstätte Marienfelde“ in Berlin, im Grenzlandmuseum Eichsfeld und an weiteren Orten gezeigt.
- Die Wanderausstellung „Generationen verbinden“ startet im Herbst 2025 und wird in kleinen und großen Städten in Ost- und Westdeutschland gezeigt. Finanziert wird die Ausstellung zu einem großen Teil durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die Stiftung Berliner Mauer und die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen sind Kooperationspartner bei diesem Projekt.