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06.07.2016

Der Innere Kompass: Ein Richtungssinn im Gehirn

Tübinger Neurowissenschaftler weisen nach, dass „Kopfrichtungszellen“ im Nagetiergehirn mit anderen Hirnstrukturen verbunden sind, die der Navigation dienen

Ein Neurowissenschaftler-Team unter Leitung von Dr. Andrea Burgalossi vom Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) der Universität Tübingen hat einen wichtigen Schritt hin zum Verständnis unseres “Inneren Kompasses” getan. Bei der Erforschung sogenannter Kopfrichtungszellen (Head Direction Cells bzw. HD-Zellen) in Nagetiergehirnen konnten sie die Existenz von Netzwerken nachweisen, die seit über einem Jahrzehnt lediglich theoretisch angenommen wurden: HD-Zellen sind direkt mit anderen Hirnstrukturen verbunden, die unsere Wegfindung im Raum ermöglichen. Besonders interessant ist der Befund, dass HD-Zellen Hirnareale ansteuern, in denen es viele Gitterzellen gibt. Von diesem Zelltypus wird vermutet, dass er bei der Navigation wie eine Art GPS im Gehirn wirkt.

„Es war für uns extrem aufregend, diese Zellen und ihre Verbindungen das erste Mal unter dem Mikroskop zu sehen“, berichtet Dr. Burgalossi. „Schließlich waren sie lange nur wissenschaftliche Phantome.” Die Zellen, über deren Entdeckung der Tübinger Neurowissenschaftler sich so begeistert zeigt, heißen Head Direction Cells oder HD-Zellen, da sie die Ausrichtung des Kopfes erkennen. Diese einfache, aber bedeutende Rolle bei der Navigation im Raum wird seit den frühen 1990er Jahren einem Zelltyp zugeschrieben, dessen Existenz bisher nur angenommen wurde.

Bis jetzt aber waren HD-Zellen und ihre Verbindungen mit anderen Hirnarealen nicht tatsächlich identifiziert und beobachtet worden. Nun haben die Tübinger Wissenschaftler sie erstmals im Gehirn von Ratten gefunden und mikroskopisch betrachtet. Ihr Zielobjekt fanden die Forscher, indem sie haarfeine Glaselektroden in das Präsubikulum einführten, ein Hirnareal, von dem als sicher galt, dass es HD-Zellen in großer Zahl enthält. Diese Elektroden spürten die schwachen elektrischen Impulse auf, welche HD-Zellen immer dann erzeugten, wenn der Kopf der Ratte in bestimmter Weise ausgerichtet war. Das Präsubikulum besteht aus mehreren Lagen, die unterschiedliche Neuronentypen enthalten, und nicht alle davon sind HD-Zellen. „HD-Zellen haben eine bestimmte Morphologie, man findet sie vor allem in Lage 3 des Präsubikulums. In Lage 2 sehen die Neuronen anders aus, dort fanden wir keine solchen Zellen vor”, erklärt Burgalossi. „Damit haben wir eine enge Verbindung zwischen Struktur und Funktion gefunden!“ Die Beziehung zwischen Struktur und Funktion ist sozusagen der Heilige Gral der Neurowissenschaften: Sie erlaubt den Forschern nicht nur die Aussage „dieser Teil des Gehirns tut jenes“, sondern ermöglicht auch tiefe Einblicke in die Frage, wie die einzelnen Neuronen ihre Aufgabe konkret verrichten.

Die Ergebnisse der Tübinger Forscher erlauben womöglich erstmals Schlüsse darauf, wie HD-Zellen Informationen aus dem Präsubikulum an andere Hirnareale weiterleiten, die der Navigation dienen. Im Gehirn bilden sich Netzwerke durch Axone, lange, sehr dünne Fortsätze, die Neuronen miteinander verbinden. Axone sind die „Kabel“, die im Gehirn „Schaltkreise“ schließen. Selbst in den winzigen Nagetiergehirnen werden sie mehrere Millimeter lang und sind dabei nur einen Mikrometer dick. Diese Abmessungen machen es schwierig, für Netzwerke im Gehirn direkte Nachweise zu finden. Einzelne Neuronen werden unter dem Mikroskop dadurch kenntlich gemacht, dass man Farbe in den Zellkörper injiziert. Aber Axone sind so dünn und so lang, dass man sie so nur selten zu Gesicht bekommt: „Der schwierigste Teil unserer Arbeit ist oft das Markieren“, sagt Burgalossi. „Nur wenn man eine HD-Zelle effektiv färben kann, wird man herausfinden, welches unter vielen möglichen spezifischen Neuronen man vor sich hat, und wohin es Verbindungen unterhält.“

Burgalossis Forschergruppe fand heraus, dass HD-Zellen im Präsubikulum Informationen an den medialen entorhinalen Kortex weiterleiten, ein Hirnareal, dem die Neurowissenschaft viel Aufmerksamkeit schenkt: Hier sind die Gitterzellen zu Hause, ein erst kürzlich entdeckter Zelltyp, der seinen Namen daher hat, dass seine Aktivität eine regelmäßige Gitter-Karte der Umgebung widerzuspiegeln scheint. Die Entdeckung der Gitterzellen durch das norwegische Forscherehepaar Edvard und May-Britt Moser wurde 2014 mit dem Nobelpreis gewürdigt. Die Ergebnisse der Tübinger Hirnforscher liefern nun den ersten anatomischen Nachweis, dass die entorhinalen Gitterzellen tatsächlich mit dem Rest des Navigationssystems im Gehirn verbunden sein dürften, insbesondere mit den HD-Zellen. Die Neurowissenschaft ist damit einen Schritt näher am Verständnis des Inneren Kompasses. 

Publikation:

Patricia Preston-Ferrer, Stefano Coletta, Markus Frey, Andrea Burgalossi: Anatomical Organization of Presubicular Head-Direction Circuits. eLife. 10 June 2016. pii: e14592.
<link https: elifesciences.org content e14592>

elifesciences.org/content/5/e14592

Kontakt:

<link>andrea.burgalossi@cin.uni-tuebingen.de

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