Uni-Tübingen

Aktuelles

15.04.2019

Wie Evolution das Gesicht wahrt und weiterentwickelt

Neue Übersichtsstudie betont die Rolle sozialer Faktoren bei der Formung des Antlitzes moderner Menschen

Gesichtsknochen eines modernen Menschen (links, überzeichnete Darstellung) und eines Neandertalers (rechts). Mit gelber Markierung sind die 3-D-Messpunkte bezeichnet, die Professorin Katerina Harvati in ihre Untersuchung zur Evolution des Gesichts moderner Menschen einbezogen hat.

Im sozialen Miteinander ist das Gesicht der markanteste Körperteil, um Menschen individuell zu unterscheiden. Dabei haben moderne Menschen ein vergleichsweise kleines, zurückgesetztes Gesicht unter einem großen halbkugelförmigen Schädeldach. Wie und wann das komplexe Konstrukt aus 14 individuellen Knochen unter der Haut und den Muskeln des Gesichts in seiner heutigen Form entstand, ist noch weitgehend unklar. Welche Hypothesen in der Wissenschaft untersucht werden, hat Professorin Katerina Harvati vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment sowie der Forschungsgruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Words, Bones, Genes, Tools“ an der Universität Tübingen gemeinsam mit internationalen Kollegen in einer neuen Übersichtsstudie zusammengetragen.

Bei aller Ähnlichkeit zu den engsten lebenden Verwandten des Menschen, den Schimpansen, Bonobos und Gorillas, gibt es zwischen den Gesichtern große Unterschiede. Die Forscher haben sich daher vor allem unter den durch Fossilien bekannten, aber längst ausgestorbenen früheren Menschenarten aus den letzten sechs Millionen Jahren nach Vorläufern der heutigen Gesichter umgesehen. Schon in der Gattung Australopithecus, frühen Menschen, die vor vier bis zwei Millionen Jahren lebten, fehlte die bei den heutigen Menschenaffen deutlich hervortretende Schnauze. Dagegen waren großflächige Gesichter mit starke Knochenbögen über den Augen, die dem modernen Menschen fehlen, bei einer Vielzahl von früheren Menschenarten verbreitet. Davon gibt es viele, und neuere Fossilienfunde erweitern die Artenzahl ständig. Zudem ist vielfach unklar, in welcher Abfolge sich diese Menschenarten entwickelten und in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie standen.

Das Forscherteam geht davon aus, dass sich einzelne Knochenkomponenten des Schädel- und Gesichtskomplexes teilweise unabhängig voneinander modular entwickelt haben. Sie sind jedoch immer wieder neu integriert worden, um wichtige Lebensfunktionen sicherzustellen. Denn das Gesicht beherbergt Teile des Verdauungsapparats, des Atemwegssystems, des Seh- und Geruchssinns.

Eine erste Verkleinerung der Gesichtsgröße, die auf Nahrung hinweist, die nicht so stark gekaut werden musste, findet sich beim frühen afrikanischen Homo erectus, der sich vor knapp zwei Millionen Jahren entwickelte. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betonen jedoch in der Studie, dass solche biomechanischen Untersuchungen zur Funktion der Gesichtsknochen bisher häufig zu sehr im Vordergrund standen. Das Gesicht spiele auch eine wichtige Rolle bei der sozialen Interaktion und Kommunikation: Beim modernen Menschen kann es durch Kontraktion und Entspannung der Muskeln 20 verschiedene Kategorien von Emotionen ausdrücken. Dagegen seien evolutiv ältere Gesichtsformen bei früheren Menschenarten bedingt durch ihren Bau noch viel unbeweglicher gewesen. Die Ausweitung der nichtsprachlichen Kommunikation über die Mimik könnte daher einen viel größeren Einfluss auf die Evolution des Gesichts gehabt haben als bisher angenommen.

Janna Eberhardt

Die Forschungsarbeiten von Professorin Katerina Harvati wurden unterstützt vom Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmen ihres Projekts „Human Evolution at the Crossroads” (ERC Advanced Grant CROSSROADS).

Publikation:

Rodrigo S. Lacruz, Chris B. Stringer, William H. Kimbel, Bernard Wood, Katerina Harvati, Paul O’Higgins, Timothy G. Bromage and Juan-Luis Arsuaga: The evolutionary history of the human face. Nature Ecology & Evolution, https://doi.org/10.1038/s41559-019-0865-7  

Zurück