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23.11.2020

Mathematik und mehr

Mathematiker, akademischer Lehrer, Kommunikator – Rainer Nagel wurde 80

„Stupor Mundi“ – Das „Staunen der Welt“, so wurde von seinen Zeitgenossen der Stauferkaiser Friedrich II. vor über 800 Jahren wegen der Vielseitigkeit seiner wissenschaftlichen und künstlerischen Interessen und Fähigkeiten genannt. Erstaunlich ist jedoch auch die Vielfalt und die Prägekraft des akademischen Wirkens unseres Jubilars und spektakulär war so manche der von ihm initiierten Aktivitäten. 

Friedrich war geprägt vom Geist des Mittelalters und brachte an seinem Hof verschiedene Kulturen und Wissenschaften zusammen. Rainer Nagel ist geprägt vom politischen und kulturellen Aufbruch der 68er-Jahre – begonnen hatte er das Studium der Mathematik im Jahr 1960, also zu einer Zeit, in der sich die Kommilitonen noch mit „Sie“ anredeten, Krawatte und Anzug trugen und es noch Ordinarien gab. Und es war und ist ihm stets ein Herzensanliegen, über die Mathematik ins Gespräch zu kommen: mit ihrer eigenen Geschichte, mit anderen Disziplinen und vor allem mit seinen Studierenden und einer interessierten oder auch skeptischen Öffentlichkeit. 

Ein Paradebeispiel dafür ist das „Spettacolo Svevo-Pugliese“, das „Schwäbisch-Apulische Spektakel“ zum 800. Geburtstag des Kaisers Friedrich, das er gemeinsam mit Studierenden konzipierte und 1994 auf einer Tournee durch Italien und Deutschland an vielen verschiedenen Orten aufführte. Friedrichs vielfältige wissenschaftliche Interessen, seine Wanderexistenz zwischen Italien und Schwaben und sein kritischer Geist sind einige Gemeinsamkeiten zwischen den beiden. Vor allem hatte es Rainer Nagel aber die rätselhafte, achteckige Architektur des von Friedrich erbauten Castel del Monte, dieser „steingewordenen Geometrie“, angetan. Und es gelang ihm, den Funken seiner Begeisterung auch auf seine Studierenden überspringen zu lassen. Basierend auf einem gründlichen Quellenstudium– musikalisch umrahmt und mit Spielszenen und Bildern ebenso unterhaltsam wie informativ – präsentierten sie die Geschichte des Kaisers, vor allem aber Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie an seinem Hof. Für dieses, im Wortsinne universitäre Projekt, erhielt er 1995 den Lehrpreis Baden-Württemberg.

Entstanden ist dieses „Spektakel“ aus einem Seminar im Wintersemester 1992, das Rainer Nagel unter dem Titel „Mathematik und Kunst“ angekündigt hatte. Auf die Frage des Dekans, was die Beziehung zwischen Mathematik und Kunst sei, hatte er nur geantwortet: „Das Wort und“. Trotz manch skeptischer Bemerkung seiner Kollegen war das Vertrauen in die Kreativität seiner Studierenden durchweg ein Schlüssel zum Erfolg seiner Projekte. 

Dieses Seminar startete im Februar 1993 mit zwanzig Studierenden und Gästen mit einer einwöchigen Seminarreise nach Rom. In zahlreichen Vorträgen und bei mathematischen Spaziergängen durch die Ewige Stadt konnten die fließenden Übergänge zwischen Wissenschaft und Kunst erlebt werden. Seither öffnet jedes Jahr im Februar Rom Studierenden der Mathematik ihre Tore für ein Bildungserlebnis ganz eigener Art: Die Tübinger Romseminare waren zur Welt gekommen. Einzige Voraussetzung für eine Teilnahme ist die Bereitschaft, über den Tellerrand der Mathematik hinaus zu blicken und sich auf fremdes Terrain locken zu lassen. Seit einigen Jahren gestaltet Rainer Nagel die Seminare gemeinsam mit ehemaligen Schülern, die inzwischen selbst als Professoren tätig sind. So vereinen die Romseminare inzwischen alljährlich Studierende aus allen vier Himmelsrichtungen – Dresden, Kiel, Siegen und Tübingen – für eine Woche in der italienischen Hauptstadt. Die Romseminare sind „Sahnehäubchen“ für alle, die die ganze Vielfalt ihres Faches bedenken und erleben möchten und für die akademische Bildung mehr ist als nur eine reine Ausbildung.

Die vielen weiteren Initiativen Rainer Nagels für die Lehre – etwa die Seminarreihe „Mathematik und Sport“, das seit über zwanzig Jahren regelmäßig stattfindende internationale Internetseminar und seine Beiträge zur Kinderuni – können nur erwähnt werden. 

Rainer Nagel hat – außer seinem hier beschriebenen Engagement für die Lehre – im Laufe seiner Lehr- und Forschungstätigkeit über 200 Diplom- und Masterarbeiten betreut, 68 Doktoranden haben bei ihm promoviert, von denen 32 jetzt an Universitäten tätig sind, in China, Deutschland, Italien, Marokko, USA und Vietnam. In fünf Monographien stellt er gemeinsam mit seinen Schülern seine Forschungsgebiete dar, die Theorie abstrakter Evolutionsgleichungen und die Ergodentheorie. Er ist Herausgeber mathematischer Zeitschriften, war Vizepräsident der Tübinger Universität, Fraktionsvorsitzender der SPD im Horber Gemeinderat, Vorsitzender des ASV Horb und ist weiterhin leidenschaftlicher Rennradfahrer. Und auch immer noch betreut er Doktoranden und hält jedes Semester eine Vorlesung, derzeit allerdings Corona bedingt nur online.  

Die regelmäßigen Treffen im Hause Nagel, etwa die jährliche Weihnachtsfeier, wurden stets von seiner Frau Ursula unterstützt. Diese Feiern haben wesentlich dazu beigetragen, persönliche und langanhaltende Beziehungen mit seinen Studierenden aufzubauen und zu pflegen. Dass es nun in diesem Jahr zu seinem 80. Geburtstag kein akademisches Kolloquium mit fröhlichem Fest und vielen Gästen von nah und fern geben wird, steht natürlich im krassen Widerspruch zu Rainer Nagels Anliegen. Einen passenden Anlass für ein Fest zu finden, war allerdings für ihn noch nie ein Problem. Es wird sich also – so Gott will – in naher Zukunft bestimmt eine neue Gelegenheit ergeben. 

Ulrich Groh (Tübingen) & Gregor Nickel (Siegen)

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