Uni-Tübingen

Der rätselhafte Rote Fluss

Der spanische Río Tinto bietet einzigartige Einblicke in das Wechselspiel von Mineralien und Bakterien. Dies lockt Tübinger Forschende und sogar die NASA – ähneln die Lebensbedingungen im Fluss doch denen auf der Marsoberfläche.

Rot und Orange schimmert das Wasser des Río Tinto. Fast unwirklich sieht der „rote Fluss“ in Spanien aus, der sich rund hundert Kilometer durch Andalusien windet, bevor er bei der Stadt Huelva in den Atlantik fließt. Das spektakuläre Farbspiel ist nicht Folge menschgemachter Verschmutzung, sondern natürlichen Ursprungs: Mikroorganismen lösen Eisen- und Schwefelverbindungen aus dem Untergrund, die das Wasser nicht nur außergewöhnlich färben, sondern auch extrem sauer machen. Hier überleben nur wenige Mikroorganismen, Algen und Pilze. Seit tausenden Jahren bauen Menschen am Flusslauf Rohstoffe wie Eisen und Kupfer ab.

Andreas Kappler hat in seinem Büro im Geo- und Umweltforschungszentrum (GUZ) der Universität Tübingen einen wandfüllenden Fotodruck aufgehängt. Dieser zeigt eine Nahaufnahme des blutroten Flussbetts. „Es ist faszinierend, wenn man durch diese extreme und heiße Landschaft am Río Tinto entlangfährt und es mit eigenen Augen sieht. Hält man den Finger in den Fluss, kribbelt es, so sauer ist das Wasser. Dass so etwas von Mikroorganismen in Gang gesetzt wurde, finde ich unglaublich.“

Die kleinsten aller Lebewesen faszinieren den Professor für Geomikrobiologie. Er erforscht, wie Mineralien und Mikroorganismen, speziell Bakterien, miteinander interagieren. Dieses Thema spielt in vielen Bereichen eine Rolle, sei es bei der Bildung klimarelevanter Gase, bei der Entfernung von Schadstoffen oder für die Gewinnung von Rohstoffen durch sogenanntes Biomining. Bei Letzterem werden gezielt Mikroorganismen eingesetzt, um Metalle aus Erzen zu gewinnen.

Eldorado für die Wissenschaft

Am Río Tinto finden Experten wie Kappler ein einzigartiges Naturlabor, das Forschende weltweit anzieht. Weil die Region mit ihren Eisenmineralvorkommen und extremen Lebensbedingungen der Marsoberfläche ähnelt, testete hier sogar die NASA Ausrüstung und analytische Methoden für die Suche nach Lebensspuren auf dem Mars. Durch die hohe Säurekonzentration bleiben im Fluss Metalle wie Eisen, Kupfer, Blei, Zink und Nickel im Wasser in ihre einzelnen Bestandteile gelöst – normalerweise bilden sie Feststoffe und setzen sich als Sedimente ab.

Aus dem Río Tinto stammen schätzungsweise bis zu 15 Prozent der Metallionen, die weltweit in die Ozeane gespült werden: einzelne Metallteilchen, die eine elektrische Ladung tragen und eine wichtige Rolle für chemische und ökologische Prozesse spielen.

„Der Río Tinto ist eines der ersten Gebiete, in denen Biomining geholfen hat, Kupfer aus Erzen zu gewinnen“, sagt Kappler. „Schon die Römer bemerkten, dass im Flusswasser Kupfer aus den Erzen freigesetzt wurde. Heute wissen wir, dass dies Bakterien zu verdanken ist.“ Immer wieder starten Tübinger Expeditionen per Flugzeug und Kleinbus zum Río Tinto, um Erkenntnisse für Projekte der geowissenschaftlichen Grundlagenforschung zu gewinnen. Eine enge Zusammenarbeit mit Forschenden der Autonomen Universität Madrid hilft bei der Arbeit vor Ort. Die gesammelten Proben fahren dann sicher verpackt ins Tübinger Labor.

„Uns interessieren Prozesse im Untergrund“, sagt Kappler. In der Region findet sich jede Menge des Minerals Pyrit, auch Katzengold genannt. Bestimmte Bakterien, wie Acidithiobacillus ferrooxidans, oxidieren das Katzengold, lösen es also in seine Bestandteile Eisen und Schwefel auf. So entsteht eine Schwefelsäurelösung, die wiederum Eisen und weitere Metalle (Kobalt, Mangan, Nickel, Cadmium) aus dem Gestein ausspült und zusammen mit Regenwasser in den Fluss transportiert. „Wir untersuchen, welche Mikroorganismen dabei eine Rolle spielen, wie aktiv diese unter diesen extremen Bedingungen sind und welche man davon in Fluss und Sediment findet.“

Gemeinsam mit der Wissenschaftlerin Sara Kleindienst und weiteren Forschenden untersuchte Kappler 2020 etwa, welche Nahrung die Mikroorganismen im Río Tinto für ihren Stoffwechsel finden und wie sie den Transport von Schwermetallen ins Mündungsgebiet beeinflussen. Während sich manche Mineralien vollständig auflösen, transportiert der Fluss andere in Form von Nanopartikeln Richtung Meer. Dort werden die Metallionen von Mikroorganismen, Plankton, Fischen und höheren Lebewesen in Enzymen genutzt oder in Sedimenten abgelagert. „Wenn wir die Transportvorgänge verstehen, können wir auch die Auswirkungen auf Umwelt und Mensch besser einschätzen.“

Biomining in Müllschlacken

Kappler hat auch Ideen, wie die Erkenntnisse der Römer heute genutzt werden können: Wenn diese mit Bakterien Metalle aus Gestein lösen konnten – warum könnte man so nicht wertvolle Metalle aus den Schlacken von Müllverbrennungsanlagen zurückgewinnen? Diese Frage beschäftigt die Tübinger Geowissenschaften schon einige Jahre. In einer Pilotstudie, gefördert durch die Müllverbrennungsanlage Mannheim, konnte sein Team zeigen, dass ein solches Biomining grundsätzlich funktioniert. 2015 wurde das Projekt von der Industrie- und Handelskammer Reutlingen ausgezeichnet.

Allerdings kann man vorerst nicht erwarten, dass spanische Bakterien in großem Maßstab Rohstoffe aus deutschem Hausmüll zurückgewinnen. „Die Schwierigkeit liegt in der nachfolgenden Trennung der Metalle“, sagt Kappler. „Für ein effektives Metallrecycling aus Schlacken bräuchte es weitere Investitionen zur Erforschung der Prozesse in größerem Maßstab und zur Übertragung in erste Pilotanlagen. Dennoch ist es wichtig, die Grundlagen im Labor zu erforschen.“

Blick zum Mars und in den Tübinger Untergrund

Das jüngste Projekt der Geowissenschaftlerinnen und Geowissenschaftler könnte einen Baustein zur Frage nach Leben auf dem Mars beisteuern. Auf dem Mars wurde neben Eisenmineralien auch Nitrat entdeckt. „Eine faszinierende Nachricht für alle, die sich mit der Materie beschäftigen“, sagt Kappler. Denn man weiß, dass Nitrat Nahrung für eisenoxidierende Mikroorganismen ist und damit eine potenzielle Grundlage für Leben. Auch am Río Tinto fand Kapplers Team Bakterien, die Eisenmineralien rosten lassen und sich von Nitrat ernähren. „Dort lassen sich also Prozesse untersuchen, die sich möglicherweise so ähnlich auf dem Mars abspielen.“


Der Río Tinto hält Schlüssel für eine Palette an wissenschaftlichen Fragestellungen bereit, von der Existenz frühen Lebens bis hin zu potenziellen Umwelttechnologien der Zukunft.


Eine Doktorandin erforscht „nitratfressende“ Mikroorganismen des Río Tinto, die an der Auflösung von Pyrit beteiligt sind. Diese sind nicht nur mit Blick auf entfernte Planeten spannend, sondern auch hinsichtlich eines Umweltproblems direkt unter unseren Füßen – der Nitratverschmutzung von Grundwasser. Dieses problematische Nitrat – beispielsweise aus der Landwirtschaft – kann durch „Denitrifikation“ entfernt werden: Dabei wandeln bestimmte Bakterien das Nitrat in unschädlichen Stickstoff  um, typischerweise mithilfe von Kohlenstoff.

Einer Mitarbeiterin gelang eine interessante Beobachtung: Im Tübinger Grundwassersystem sind Bakterien vorhanden, die statt Kohlenstoff das Mineral Pyrit als Energiequelle nutzen – und dabei auch das schädliche Nitrat aus dem Wasser entfernen. „Genau dies passiert im Río-Tinto-Untergrund“, sagt Kappler. „Dort erforschen wir die Zusammenhänge, um auch besser zu verstehen, was bei uns im Untergrund passiert. Unser Team ist eine der weltweit führenden Arbeitsgruppen, die genau mit diesen Organismen arbeitet.“

Der Río Tinto ist für Kappler eine ideale „Forschungsspielwiese“. „Die Region ist gut erschlossen und sicher – ein seltenes Gut in der Feldarbeit. Das Gebiet hält Schlüssel für eine Palette an wissenschaftlichen Fragestellungen bereit, von der Existenz frühen Lebens bis hin zu potenziellen Umwelttechnologien der Zukunft.“


Die Arbeitsgruppe Geomikrobiologie

Prof. Dr. Andreas Kappler leitet die Arbeitsgruppe Geomikrobiologie am Geo- und Umweltforschungszentrum (GUZ) der Universität Tübingen. Hier arbeitet ein interdisziplinäres Team aus Geochemikern, Mineralogen und Mikrobiologen in 2021 neu errichteten und modern ausgestatteten Laborbereichen.

Als eine der ersten Hochschulen in Deutschland richtete die Universität Tübingen 2008 eine Professur für das neue Forschungsfeld Geomikrobiologie ein.

Forschungsschwerpunkte sind die Untersuchung von Bakterienarten; die Analyse von Mineralen und deren Wechselwirkungen; die Bedeutung von Bakterien für die Freisetzung von Klimagasen und Schadstoffen; die Entstehung des Lebens auf der Erde.

Text: Christoph Karcher


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