Uni-Tübingen

Lymphknoten aus dem Computer

Florian Wimmers will Menschen mit einer Krebserkrankung bessere Impfungen ermöglichen. Bei seiner Forschung unterstützt ihn KI.

Bodentiefe Fensterfronten eröffnen einen weiten Blick auf Tübingen und die Schwäbische Alb. Im sechsten Stock eines Universitäts-Neubaus auf dem Campus Morgenstelle, zwischen Büros, Meetingräumen und Küche, gehen Florian Wimmers und sein Team der Frage nach, warum Menschen, die an Krebs erkrankt sind, häufig schlechter auf Impfstoffe ansprechen und ein deutlich höheres Risiko haben, an Infektionen zu sterben.

„Ein möglicher Grund ist die Tumorerkrankung selbst, aber auch viele Krebstherapien schwächen das Immunsystem und sorgen dafür, dass Impfungen schlechter ansprechen“, erklärt der Experte für Systemimmunologie. Er geht im separat gesicherten Laborbereich zu einem massiven Kühlschrank und öffnet dessen Türe. Weißer Dampf quillt heraus. Er entnimmt eine auf minus 196 Grad Celsius heruntergekühlte Kapsel, in der sich Material aus menschlichen Mandelzellen befindet –Abfallprodukte aus Routineoperationen. Mandeln sind Teil des Lymphsystems und für die Forschenden ein perfektes Modell, weil sie Immunzellen enthalten, die direkt auf Impfstoffe reagieren.

Diese Zellen kultivieren die Forschenden zu sogenannten Organoiden – „Mini-Organe“, mit denen Impfreaktionen simuliert werden können. Per Pipette gibt eine der Doktorandinnen vorsichtig eine Flüssigkeit, die aus den Mandeln extrahierte Zellen enthält, in 96 kleine Kammern einer Laborschale. Dort werden die Zellen durch molekulare Signale zu Gruppen zusammenfinden, die der Organisation im Mandelgewebe entsprechen: Ein Organoid ist gebildet. In verschiedenen Varianten fügt sie Impfstoffe hinzu  – etwa gegen Grippe oder Herpes – sowie verschiedene Krebsmedikamente. Jetzt können die Forschenden beobachten, welche Kombinationen welche Wirkungen zeitigen. In einigen Kammern  produzieren die Immunzellen fleißig Antikörper – manchmal erstaunlicherweise auch bei Medikamenten, die eigentlich das Immunsystem bremsen sollten –, in anderen tut sich wenig. Die Wirkungen hunderter Krebsmedikamente auf Immunzellen kommen so auf den Prüfstand. Aber: Die Zahl möglicher Varianten und Kombinationen von Medikamenten ist zu groß, als dass alle mit Pipette und Messgeräten erfasst werden könnten. Über 300 zugelassene Krebsmedikamente ergeben alleine in Zweierkombinationen rechnerisch fast 45.000 Varianten. Dazu kommen verschiedene Dosierungen.


Einige Krebstherapien schwächen das Immunsystem.


Virtueller Lymphknoten liefert rekordschnell Ergebnisse

An dieser Stelle kommt Künstliche Intelligenz ins Spiel. Ein mit realen Forschungsdaten trainiertes und eigens entwickeltes digitales Modell soll rasend schnell viele tausend Impfstoff- und Medikamentenkombinationen durchspielen. Aus der gigantischen Datenmenge, die dabei in diesem „virtuellen Lymphknoten“ entsteht, wird eine Software interessante Zellreaktionen herausfiltern. Dann übernimmt wieder der Mensch, um diese Kandidaten noch einmal gezielt und ganz klassisch in echtem Gewebe zu untersuchen. „Diese Schnittstelle zwischen Biologie und Informatik macht unsere Arbeit aus“, sagt Wimmers. „Die Experimente sind sehr komplex und die Datensätze
riesig, methodisch ist das am Limit des derzeit Möglichen – sowohl im Labor als auch in den KI-Analysen. Wir stecken jede Menge eigener Entwicklungsarbeit hinein und etablieren neue Algorithmen und Prozesse, weil wir das Potenzial dieser Methoden ausloten wollen, auch für weitere Forschungsbereiche.“


Die Schnittstelle zwischen Biologie und Informatik macht unsere Arbeit aus.


Mitarbeitende aus drei Ländern

Irgendwann sollen die Ergebnisse in ärztliche Leitlinien einfließen. „Es wäre ein großer Fortschritt, wenn Ärztinnen und Ärzte künftig sagen könnten: Bei Patient A, mit Medikament B, wirkt Impfstoff C besonders gut – oder eben nicht. Wenn wir so in Zukunft Infektionen verhindern können, hat sich die Arbeit gelohnt.“ Derzeit arbeiten sechs Leute in seiner Gruppe: Postdocs, Doktorandinnen und Doktoranden und eine technische Assistentin, dazu kommen Masterstudierende. Die Teammitglieder sind jung, kommen aus Spanien, China und Deutschland, und arbeiten interdisziplinär. Die Bandbreite reicht von reiner Laborkompetenz über Humanbiologie bis zur IT-Expertise. „Mir ist wichtig, dass sich die Leute austauschen und gegenseitig mit ihrem jeweiligen Fachwissen unterstützen. Alle haben beeindruckend schnell ein Verständnis für unseren Ansatz entwickelt. Mittlerweile entwerfen die Doktorandinnen und Doktoranden eigene Hypothesen, interpretieren selbstständig Daten und konzipieren neue Experimente.“

„Das Schönste an der Wissenschaft ist, wenn alle Teile zusammenpassen“

„Andere Leute machen gerne Puzzles, ich beschäftige mich mit dem Immunsystem“, sagt Florian Wimmers. „Wenn man am Anfang nicht genau versteht, wie Zellen zusammenarbeiten oder warum ein Effekt auftritt, und man dann nach und nach die verschiedenen Teile zusammensetzen kann, macht mir das einfach Freude.“ Erst vor Kurzem gab es so einen Moment. Während seiner Postdoc-Zeit in den USA an der Stanford University hatte Wimmers eine auffällige Reaktion bestimmter Immunzellen beobachtet. „Mit den damaligen Methoden konnten wir dies nur als Beobachtung beschreiben, aber nicht wirklich verstehen, was auf molekularer Ebene passiert.“ Jetzt, Jahre später, brachte eine neue Analyse die Lösung. Dank präziserer Messmethoden und erweiterter Datensätze konnte das Tübinger Team in Kooperation mit Kollegen der Universitäten Stanford und Berkeley in den USA und des Weizman Instituts in Israel den zugrunde liegenden Mechanismus aufklären. „Plötzlich passte alles zusammen – genau solche Momente sind für mich das Schönste an der Wissenschaft.“


Plötzlich passte alles zusammen. Genau solche Momente sind für mich das Schönste an der Wissenschaft.


Der Europäische Forschungsrat fördert das Labor von Florian Wimmers in den Jahren 2025 bis 2030 mit 1,5 Millionen Euro mit einem sogenannten ERC Starting Grant für junge Wissenschaftler. Erste Ergebnisse kann er voraussichtlich 2026 veröffentlichen. Erfahrungen in der Leitung von Forschungsgruppen hatte Wimmers zuvor in den Niederlanden, der Schweiz und den USA gesammelt, seit 2022 ist er Leiter einer Emmy-Noether-Forschungsgruppe an der Universität Tübingen.

Text: Christoph Karcher


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