Uni-Tübingen

Das Ende des klassischen Gelehrten

Forschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert: Verbünde haben den klassischen Gelehrten abgelöst. Im Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“ arbeiteten über 12 Jahre rund 60 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Sozial- und Geisteswissenschaften in bis zu 18 Teilprojekten an einer Frage: Wie kann
man Krisen anders denken? Diese Frage stellten sie mit Blick auf so unterschiedliche Themen wie Russlands Angriffskrieg in der Ukraine, den Ausbruch der Pest im römischen Reich 541 n. Chr. oder die Kölner Silvesternacht 2015/2016. Der Historiker Professor Ewald Frie und der Soziologe Professor Boris Nieswand waren in leitenden Positionen an dem Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“ beteiligt. Gemeinsam haben sie ein Buch geschrieben, das nicht auf die wissenschaftlichen Ergebnisse, sondern auf die Umstände ihrer Entstehung blickt.

Ihr Buch „Keplerstraße 2“ beginnt mit einer Radtour durch Tübingen, vorbei an den Gebäuden einer Universität, die sich im Laufe ihrer Geschichte nicht nur räumlich, sondern auch immer mehr in die Gesellschaft hinein ausweitet. Wissenschaft sei ein Beruf wie jeder andere geworden, schreiben Sie. Ist die Wissenschaft als Metier der Überzeugungstäter damit Vergangenheit?

Ewald Frie: Bis in die 1960er-Jahre ist Wissenschaft eine Veranstaltung vorrangig bürgerlicher Männer gewesen, die sich als intellektuelle Elite verstanden. Wissenschaft ist seitdem professioneller und transparenter geworden. Heute werden Posten und Ehren weniger über persönliche Beziehungen als vielmehr über objektivierbare Kriterien wie Publikationsorte oder Zitationsindizes vergeben.

Boris Nieswand: Die Anforderungen an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Forschungsverbünde und Exzellenzcluster haben als Organisationsformen an Einfluss gewonnen, dort arbeiten viele Personen aus unterschiedlichen Fachrichtungen an einem Thema zusammen. Der klassische Gelehrte, der allein in seinem Schreibstübchen hockt, ist hier nicht mehr gefragt. Es braucht andere Charaktere.

Was bedeutet diese Entwicklung in der Wissenschaft für das Wissen, das sie generiert?

EF: Für die Geschichtswissenschaft würde ich sagen, dass Alltagserfahrungen thematisierbar wurden, die man wahrscheinlich vor fünfzig Jahren für zu profan gehalten hätte: Alltagsgeschichte ist ein Forschungsfeld geworden, Praxisgeschichte auch.

BN: Der Fokus liegt auch in den Sozialwissenschaften auf forschungsorientierten Publikationen, die ein eingegrenztes Problem behandeln. Sie entstehen oft in Projekten, die Planung und Management notwendig machen. Wo Menschen mit individuellen Hintergründen zusammenarbeiten, wird dann verhandelt: Was ist ein wissenschaftlich interessantes Thema, wie soll es aufgearbeitet werden und in was für einem Format soll es publiziert werden?

Die Lektüre von „Keplerstraße 2“ zeigt: Der Wissenschaftsbetrieb ist viel „normaler“ als viele denken.

EF: Auch Forschung ist eine menschliche und damit soziale Praxis, mit all den Konsequenzen, die damit einhergehen. Das bedeutet: Die formellen und die informellen Bewertungskriterien für Wissenschaft unterscheiden sich.

BN: Wir müssen die wissenschaftliche Praxis von der Wissenschaftstheorie unterscheiden und ein realistisches Maß anlegen. Das bedeutet, anzuerkennen, dass alle Menschen ihre Ansprüche und Werte im praktischen Tun gelegentlich unterlaufen. Menschen verhalten sich nicht, wie man nach der Lektüre einer wissenschaftstheoretischen Gebrauchsanweisung erwarten könnte. Wie in anderen Bereichen des sozialen Lebens folgen Menschen in der Wissenschaft oft ihrer praktischen Vernunft und interagieren mit ihrer Umwelt. Sozialbeziehungen der Forschenden und die materiellen Bedingungen ihrer Arbeit wirken auf den Gegenstandsbereich zurück.


Die Anforderungen an Forschende haben sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert. - Boris Nieswand


Es menschelt in der Wissenschaft mehr als die Forschenden eingestehen möchten?

EF: „Menschelt“ klingt mir zu negativ. Wissenschaft ist ein Ort, an dem Menschen unter eigenen Logiken – zum Beispiel mit bestimmten Karriereabsichten – arbeiten. Nur deswegen funktioniert das Ganze. Was treibt die Wissenschaft denn voran? Erkenntnissuche, klar, aber eben auch individuelle Karriereabsichten.

BN: Diese Individuen müssen sich dann als Gruppe finden und Arbeitsformen entwickeln, die nicht von der Wissenschaftstheorie vorgegeben werden. Dabei geht es oft um ganz praktische Themen: Mit wem kann ich einfach zusammenarbeiten, mit wem macht es vielleicht sogar Spaß? Wenn sich Denkweisen und Arbeitsstile von zwei Personen blockieren, sollte man sie besser nicht eine Arbeitsgruppe bilden lassen. Es geht um Aushandlungsprozesse zwischen Personen mit unterschiedlichen Biografien und Wissenshorizonten.

Sie nehmen auch den sozialen Aspekt in ihrem Buch in den Blick.

EF: Ein Forschungsverbund ist eine soziale Gruppe. Professionalität und Emotionalität verschränken sich in der alltäglichen Arbeit. Man sitzt bei Retreats den Tag über mit 40 Leuten zusammen und diskutiert. Jeder sieht, wer wie viel sagt und tut, alle beobachten und bewerten sich gegenseitig – das ist eine stressige Situation. Besonders wichtig sind deshalb Momente, in denen gemeinsam Distanz gewonnen wird. In denen über Geschehnisse gelacht wird, Erzählungen geteilt werden, aus denen sich „Legenden“ entwickeln können. Einige davon beschreiben wir in unserem Buch, etwa den „unversöhnlichen Gutachter“, der in Erzählungen zur Bedrohung von außen stilisiert wird. Solche Legenden stiften Identität und Zusammenhalt.

BN: Emotionen sind wichtig. Sie können einerseits Energie freisetzen, andererseits lähmend wirken. Kritik am eigenen Projekt oder gar eine Ablehnung wird schnell persönlich aufgefasst, denn Wissenschaft begleitet die Menschen nicht nur durch den Arbeitstag, sondern ist oft zentraler Lebensinhalt. Damit muss man im Team umzugehen lernen.

Sind die Geistes- und Sozialwissenschaften bereit für die Arbeit in Verbünden?

BN: Forschungsanträge werden danach bewertet, was sie als Resultat versprechen. So ein Versprechen fällt Geistes- und Sozialwissenschaften schwerer als anderen. Ihre Forschung lebt von dem Wunsch, etwas Neues zu entdecken, und von der Offenheit der Erkenntnis, also von einer eher losen Kopplung zwischen dem Antrag und den Resultaten. Wir müssen unsere Ziele deswegen anders definieren als es etwa die Naturwissenschaften tun.

EF: Geistes- und Sozialwissenschaften suchen nicht nach endgültigen, immerwährenden Lösungen. In „Bedrohte Ordnungen“ haben wir ein Muster gefunden, das Bedrohungsverläufe vergleichbar macht. Wir haben aber keine Lösung für kommende Krisen gefunden. Uns ging es darum, die Beobachtungsperspektive für Krisen zu verbessern. Geisteswissenschaftliche Forschung zeichnet sich durch diese Offenheit aus. Wenn die Wissenschaften das anerkennen, können sie hervorragend in Verbundprojekten arbeiten.

Befinden wir uns mit dem Trend zur Verbundforschung auf einem guten Weg?

BN: Der gegenwärtige Fokus auf Verbundforschung hat natürlich seine eigenen Dysfunktionalitäten. Zum Beispiel wird das Publikationswesen manchmal zu stark nach der Zahl der veröffentlichten Fachartikel und zu wenig nach deren Inhalt bewertet. Aber: Alles in allem habe ich den Eindruck, dass diese Bewegung zu Professionalisierung, Teamarbeit und zur Demokratisierung der akademischen Milieus richtig ist. Die alte Systemlogik der Führung der Wissenschaft durch wenige herausragend scheinende bürgerliche Männer scheint mir nicht die bessere Alternative zu sein.

Prof. Ewald Frie lehrt Neuere Geschichte an der Universität Tübingen und ist Direktor des Seminars für Neuere Geschichte. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit der Geschichte Deutschlands im 18., 19. und 20. Jahrhundert sowie mit europäischer Adelsgeschichte und der Geschichte von Armut und Wohlfahrtsstaat. 

2023 erhielt er den Deutschen Sachbuchpreis für sein Buch „Ein Hof und elf Geschwister“, in dem er den Wandel des bäuerlichen Lebens in Deutschland nachzeichnet.

Prof. Boris Nieswand ist Professor für Soziologie an der Universität Tübingen. Zuvor arbeitete er unter anderem am Max-Planck- Institut für Sozialanthropologie in Halle
(Saale) und am Max-Planck-Institut zur Erforschung religiöser und ethnischer Vielfalt in Göttingen. 

Seine Forschungsschwerpunkte sind Migrations- und Diversitätsforschung, Stadtforschung, Kultursoziologie und Soziologie der Moral. Nieswand hat ethnografische Forschungsprojekte in Europa, Afrika und Lateinamerika durchgeführt und geleitet.

Text: Michael Pfeiffer


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