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16.12.2022

„Eine komplizierte Rede in komplizierten Zeiten“

Seminar für Allgemeine Rhetorik zeichnet Luisa Neubauer für „Rede des Jahres 2022“ aus

Die Jury des Seminars für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen verleiht Luisa Neubauer die Auszeichnung „Rede des Jahres 2022“ für ihre Ansprache auf dem Parteitag der Grünen am 16. Oktober 2022. Ihre Rede ist ein aufrüttelndes Plädoyer für eine wirkungsvolle Klimapolitik und ein eindringlicher Aufruf der jungen Generation für Gerechtigkeit und Solidarität in Anbetracht des Klimawandels. 

Auf dem Parteitag der Grünen stand Neubauer, selbst Grünen-Mitglied und Klimaaktivistin bei Fridays for Future, vor einer großen situativen und persönlichen Herausforderung. Während der politische Alltag von Ukrainekrieg, Corona-Folgen und wirtschaftlichen Problemen geprägt ist und die Grünen-Partei vor einer Zerreißprobe steht, will Neubauer energisch auf die Schattenseiten der realpolitischen Lösungsansätze hinweisen. Pointiert fasst sie die Ausgangslage zusammen: „Eine komplizierte Rede in komplizierten Zeiten.

Mit großem Engagement und kraftvoller Rhetorik tritt Neubauer für ihre Sache ein, ihre Betroffenheit und Sorge sind in jedem Satz der Rede zu spüren – und manches Mal auch in ihrer betroffenen, mitunter wütenden Stimme zu hören. Feinfühlig und dennoch bestimmt erinnert sie an die Werte und Ziele der Grünen und der Klimabewegung in Zeiten wachsenden Handlungsdrucks und einer von Kompromissen gezeichneten Realpolitik. Mit rhetorischen Fragen wendet sich Neubauer gegen eine aus ihrer Warte als Klimaaktivistin falsch verstandene Realpolitik: „Ich frage euch: Was ist denn Realpolitik in der Klimakatastrophe? Scholz und Lindner, sie sind nicht die Realität; Friedrich Merz und sein Klima-Populismus ist es auch nicht.“ 

Wer Neubauers Auftritte von den Demonstrationen mit Fridays for Future kennt, erlebt hier eine ganz andere Rednerin. Dort wie hier passt sie sich gekonnt dem Publikum an. Die Jugendsprache weicht der beißenden Ironie, der melodische Vortrag – fast einem Rap vergleichbar – wird durch antithetische Perioden ersetzt. Ein genau kalkulierter und argumentativ starker Auftritt, bei dem die Rednerin sich heiklen Fragen und Problemen stellt, statt ihnen auszuweichen. Wiederholungen und Antithesen nutzt sie, um Verständnis und Unverständnis gleichermaßen auszudrücken und den Widerspruch zu einem Kernelement der Rede werden zu lassen: „Ich verstehe, dass ihr die Misere der anderen ausbadet, ich verstehe, dass der Weg aus den Fossilen nach dem 24. Februar diesen Jahres ein anderer sein muss als davor. Was ich aber nicht verstehe, ist, dass dieser provisorische Weg für Jahrzehnte zementiert wird, dass man neue fossile Infrastruktur schafft, die man absehbar nicht braucht.“ Das kleine Dorf Lützerath erklärt die Rednerin zum Symbol dieses Konfliktes, wo sich das große Ganze manifestiere. Genau hier legt Neubauer, die unermüdliche Klimaaktivistin, den Finger in die Wunde und fragt mit großer Verve: „Seit wann argumentieren die Grünen mit gefakten Zahlen von RWE? Seit wann?“

Vom Raunen im Saal lässt sich die Rednerin, Stimme der jungen Generation, nicht beirren. 
Sie appelliert an die Vernunft, der Klimakatastrophe politisch zu begegnen, denn das sei echte Realpolitik.

Zum Schluss ihrer aufrüttelnden Rede fährt Neubauer nochmals ein ganzes Arsenal an Appellen auf, die an Dringlichkeit kaum zu überbieten sind: „Es gibt keinen Tag zu verlieren und keine Legislaturperiode zu verschwenden“, und: „legt los!“. Das Publikum zeigt sich von der eindringlichen Mahnerin und ihren aufrüttelnden Appellen hörbar wie sichtbar beeindruckt – und würdigt sie mit stehendem Applaus. Damit liefert Neubauer nicht nur eine technisch wie performativ äußerst mitreißende Rede, sondern auch ein beeindruckendes Beispiel für die differenzierende Wirkmacht kritischer Rhetorik. 

Jury: Lukas Beck, Nico Bosler, Dr. Fabian Erhardt, Dr. Markus Gottschling, Dr. Gregor Kalivoda, Rebecca Kiderlen, Prof. Dr. Joachim Knape, Dr. Sebastian König, Prof. Dr. Olaf Kramer, Dr. Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Viktorija Völker, Dr. Thomas Zinsmaier

Arbeitskreis Rede des Jahres: Lukas Beck, Dr. Fabian Erhardt, Dr. Frank Schuhmacher

Text der Rede: http://www.rhetorik.uni-tuebingen.de/portfolio/rede-des-jahres/

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