An der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen ist eine Forschungsstelle „Kirchliches Arbeitsrecht“ gegründet worden. Sie wird von dem Arbeitsrechtler Professor Dr. Hermann Reichold geleitet und beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, ob auch christliche Sozialkonzerne sich auf die kirchlichen Tarife berufen können, die nicht von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ausgehandelt werden, sondern von arbeitsrechtlichen Kommissionen innerhalb der Diözesen oder Landeskirchen. Dieser so genannte „Dritte Weg“ der Arbeitsrechtssetzung eint die Kirchen und stört die Gewerkschaften: Insbesondere der Streik ist in Kirche, Caritas und Diakonie nämlich verboten. Dazu anhängige Gerichtsverfahren dürften bald in Erfurt vom Bundesarbeitsgericht und vermutlich auch in Karlsruhe vor dem Bundesverfassungsgericht in letzter Instanz entschieden werden.
„Dritter Weg auch für christliche Sozialkonzerne?“ ‒ diese Frage stand bei der feierlichen Eröffnung am 11. November 2011 im Mittelpunkt, die mit 60 Gästen aus Wissenschaft und Praxis auf Schloss Hohentübingen stattfand. Drei Impulsreferate gingen ihr aus unterschiedlichen Perspektiven nach. So sprach Professor Dr. Heinrich de Wall, Inhaber des Lehrstuhls für Kirchenrecht, Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg, aus Sicht des Staatskirchenrechts. Das Streikrecht ist Teil der Koalitionsfreiheit und unterliegt dem Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG. Ob in kirchlichen Einrichtungen gestreikt werden darf, hängt vom Ergebnis der Abwägung mit dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ab. De Wall betonte, beiden Grundrechten käme der gleiche Rang zu, eine Abwägungslösung sei daher auf verfassungsrechtlicher Ebene im Wege der praktischen Konkordanz zu suchen. Im Ergebnis, so de Wall, sei der Dritte Weg zwar durch die Verfassung geschützt, er müsse sich aber eine Abwägung mit Art. 9 Abs. 3 GG gefallen lassen.
Harald Schliemann, Präsident des Kirchengerichtshofes der Evangelischen Kirche, betonte, der Dritte Weg sei durch die „Binnensäkularisierung“ seiner Akteure gefährdet. In beiden Kirchen seien ca. eine Million Menschen beschäftigt, die Kirchenmitgliedschaft aber ginge deutlich zurück. „Es ist zunehmend zu fragen, ob kirchliche Mitarbeiter sich als Teil der Einrichtung, in der sie beschäftigt sind, identifizieren können.“ Schliemann appellierte an das „sentire cum ecclesia“, also die Solidarisierung mit der Kirche und ihrem Auftrag, und sah den Dritten Weg stark im Fokus der Selbstgefährdung. Professor Dr. Reinhard Richardi, Präsident des Kirchlichen Arbeitsgerichtshofes der Katholischen Kirche in Bonn, gab zu bedenken, dass das „christlich“ im Begriff des Sozialkonzerns nicht per se zum Bonus des Selbstbestimmungsrechts führen dürfe. Denn es gebe keinen „kleingeschriebenen“ Dritten Weg, sondern nur einen, der konsequent und ganzheitlich praktiziert werde.
In einer Podiumsdiskussion berichteten Professor Dr. Karl-Hermann Kästner, Professor Dr. Felix Hammer, Justitiar und Kanzler der Diözese Rottenburg-Stuttgart, und Dr. Michael Frisch, Kirchenoberrechtsdirektor der evangelischen Landeskirche Württemberg, von ihren Erfahrungen aus der kirchlichen Praxis. Konsens war auch hier, dass die Kirche den Dritten Weg ganzheitlich beschreiten müsse, um glaubwürdig zu bleiben. Als Anregungen für den kirchlichen Dienst schlug Professor Reichold vor, kirchlichen Mitarbeitern über eine gerechte materielle Entlohnung hinaus auch immaterielle Anreize zu vermitteln, zum Beispiel durch Angebote zur Weiterbildung und durch Schaffung eines vernünftigen Arbeitsklimas.
Weitere Informationen unter www.jura.uni-tuebingen.de/reichold/forschungsstelle
Elisabeth Hartmeyer
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