Zur diesjährigen Unseld Lecture war der renommierte und auch über die Grenzen seines Faches hinaus wirkmächtige kanadische Sozialphilosoph Professor Dr. Charles Taylor zu Gast am Forum Scientiarum der Universität Tübingen. In seiner öffentlichen Vorlesung im Audimax in der Neuen Aula erläuterte Taylor, warum er die weit verbreitete Ansicht, der Prozess der Säkularisierung gehe grundsätzlich mit dem Rückgang religiöser Glaubensüberzeugungen einher, für falsch hält. Taylor versteht die Säkularisierung vielmehr als eine Antwort auf die Herausforderung, das Zusammenleben von Menschen mit sehr unterschiedlichen Werte- und Glaubensvorstellungen zu gestalten. Als Leitlinien nennt er zwei Prinzipien: Gleichheit und Glaubens- beziehungsweise Gewissensfreiheit.
Zwei Tage nach seiner Vorlesung diskutierte Taylor im Audimax mit der Islamwissenschaftlerin Professor Dr. Gudrun Krämer von der FU Berlin über Säkularisierung in muslimischen Gesellschaften. Krämer machte in ihren sehr authentisch wirkenden Erfahrungsberichten deutlich, dass die Vorstellung von homogenen, sich strikt an die Gebote des islamischen Rechte- und Wertekanons – der Scharia – haltenden Gesellschaften verfehlt ist. Während der Glaube in großen Teilen der verschiedenen muslimischen Gesellschaften stark verankert ist, lassen sich gleichwohl überall einzelne Säkularisierungstendenzen aufweisen.
Neben seinen öffentlichen Auftritten leitete Taylor am Forum Scientiarum einen fünftägigen Meisterkurs, zu dem Doktoranden und Juniorprofessoren aus aller Welt nach Tübingen gekommen waren. Mit nicht nachlassendem Interesse und geradezu jugendlichem Engagement diskutierte er mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern nicht nur seine eigenen Arbeiten, sondern auch deren Projekte zu allen möglichen Fragen von Säkularisierung und Religion.
Internetseite Unseld Lectures (Forum Scientiarum)
Niels Weidtmann