Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2014: Alumni Tübingen
Vom Psychologie-Studium zur Europa-Politikerin
Interview mit Anne Brasseur, Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung des Europarats
Die luxemburgische Politikerin Anne Brasseur ist seit Januar 2014 Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Anfang der 1970er-Jahre studierte sie an der Universität Tübingen fünf Semester Psychologie. Maximilian von Platen hat sie für „Uni Tübingen aktuell“ interviewt.
Von wann bis wann haben Sie in Tübingen studiert?
Ich habe in Tübingen von 1970 bis 1972 fünf Semester Psychologie studiert, bis zum Vordiplom.
Warum haben Sie sich für ein Studium an der Universität Tübingen entschieden?
Ich wollte in Deutschland studieren. In Luxemburg gab es damals keine Universität, also musste man zum Studium ins Ausland [Anm. der Redaktion: Die Universität Luxemburg wurde erst 2003 gegründet]. Ich habe mir die Studiengänge zunächst sehr genau angeschaut. In Frankreich war die Psychologie stärker auf das Psychoanalytische ausgerichtet, in Deutschland dagegen basierte das Fach Psychologie viel stärker auf Erfahrung, auf Empirik und Statistik – das kam meinem Naturell mehr entgegen. Ich habe mich dann umgesehen, wo es in Deutschland Studienplätze gab und in Tübingen habe ich einen Studienplatz bekommen, so bin ich an den Neckar gekommen.
Welche Erinnerungen haben Sie an Tübingen und die Universität?
Es war die Zeit nach 1968, eine bewegte Zeit. Was mich damals gestört hat, das war die Intoleranz – auf beiden Seiten, links wie rechts. Wir haben auf der einen Seite nach Freiheit geschrien. Und doch waren die Ansichten damals so radikal, dass man den Anderen nicht von Anfang an akzeptierte. Das hat mich sehr beeindruckt, weil ich dachte, an der Universität könnte man doch zunächst dem Anderen zuhören, um dann durch die Diskussion zu einem Ergebnis zu kommen. Das war aber in der damaligen Atmosphäre sehr schwer möglich. Wir haben in dieser Zeit nicht die Verantwortung übernommen, auch offen zu sein gegenüber Andersdenkenden und wenigstens zuzuhören – auch wenn man die Ansichten des anderen nicht teilte.
Generell war Tübingen eine Studentenstadt, in der es zwei Welten gab: einmal die sehr offene Welt der Studierenden, und auf der anderen Seite die Welt der Einheimischen.
Die Tübinger Altstadt war damals einer meiner Lieblingsplätze. Ich hatte zunächst ein Zimmer bei einer schwäbischen Vermieterin in der Tübinger Gartenstadt. Später habe ich dann im Studentenwohnheim Geigerle gewohnt. Dort habe ich mich sehr wohl gefühlt und viel Zeit verbracht. Und ich habe dort meine Liebe zum Fußball entdeckt – es gab einen Fernseher und während der WM 1970 in Mexiko lief im Geigerle die ganze Zeit Fußball…
Wie hat das Studium Sie auf Ihren Beruf vorbereitet?
Nach meinem Studium habe ich dann ein paar Jahre bei der Staatsanwaltschaft in Luxemburg gearbeitet, in der Abteilung für Soziale Dienste. Dafür hat mir mein Studium, insbesondere der Forensischen Psychologie, sehr geholfen. Nach vier Jahren bekam ich dann 1979 mein erstes Mandat für das luxemburgische Parlament – und seit dem bin ich Vollzeitpolitikerin.
Grundsätzlich sollte man an alle Aufgaben – unabhängig vom Studienfach – mit dem gesunden Menschenverstand herangehen, das hilft am meisten. Was einem das Studium jedoch in jedem Fall vermittelt, sind methodische Herangehensweisen, wie man einen Sachverhalt analysiert, wie man einen Text analysiert, wie man zu den richtigen Schlussfolgerungen kommen kann. Das ist später notwendig für jeden Beruf, auch für die Politik. Was man studiert ist zunächst zweitrangig, wichtiger ist, dass man in der akademischen Ausbildung diese Grundtechniken erlernt. Auch die Fähigkeit, dass man sich von der Ratio lenken lässt und weniger von Emotionen – was in der Politik leider nicht immer der Fall ist.
Was sind Ihre Aufgaben als Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung des Europarats?
Die Aufgabe einer Präsidentin einer Parlamentarischen Versammlung ist zuallererst darauf zu achten, dass die Regularien genau eingehalten werden und dass die mehrheitlich getroffenen Entschlüsse der Versammlung auch umgesetzt werden.
Natürlich gibt es viele repräsentative Aufgaben. Alle diese „offiziellen Termine“ sind dabei immer auch mit inhaltlicher Arbeit verbunden. In dieser Woche [26. KW] habe ich beispielsweise den aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev getroffen und den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko – für alle diese Treffen ist eine gründliche inhaltliche Vorbereitung unbedingt erforderlich, dies umfasst geschichtliche und kulturelle Aspekte genauso wie die politischen Gegebenheiten. Im Falle der Ukraine geht es zum Beispiel ganz konkret darum, wie der Europarat das Land unterstützen kann, Strukturen aufzubauen, damit die Demokratie dort auch funktionieren kann.
Als Folge der Ereignisse in der Ukraine haben wir – also die parlamentarische Versammlung des Europarates – der russischen Delegation das Stimmrecht entzogen und auch die Teilnahmemöglichkeit an den Exekutivorganen der parlamentarischen Versammlung des Europarates. Aber: wir haben Rußland nicht ausgeschlossen. Die russische Duma hat daraufhin beschlossen, gar nicht mehr zum Europarat nach Straßburg zu kommen. Ich habe mit dem Duma-Vorsitzenden Sergei Naryschkin telefoniert, um ihn zu überzeugen, doch zu kommen – man kann die Probleme ja nicht ohne Rußland lösen. Das Gespräch war kompliziert. Das einzige, auf das wir uns verständigen konnten, war, dass wir in Kontakt bleiben und uns treffen wollen – das wird aber nicht vor September geschehen können.
Auch Reisen in die Mitgliedsländer gehören zu meinen Aufgaben als Präsidentin. Ich bin der Überzeugung, dass der persönliche Kontakt und die Kenntnis der aktuellen politischen Atmosphäre vor Ort sehr wichtig sind für eine erfolgreiche Arbeit. Hinter allen Sachverhalten und Fragestellungen stehen immer Menschen, die agieren. Das Amt ist eine große Herausforderung und eine große Verantwortung zugleich.
Was sind Ihre Gründe, sich politisch zu engagieren?
Ich hatte keinen Plan, Politikerin zu werden. Ich war 1975 nach meinem Studium Kandidatin für die Gemeinderatswahl in der Stadt Luxemburg. Die damalige Bürgermeisterin hatte mich überzeugt, dass auch junge Leute und Frauen sich engagieren sollten. Anstatt nur zu kritisieren oder mich an anderer Stelle einzubringen, dachte ich: Da mache ich mit. Ich wurde dann – zur allgemeinen wie auch zu meiner eigenen Überraschung – gewählt. Dann kam die Parlamentswahl von 1979. Und auch bei dieser Wahl wurde ich gewählt. Und danach immer wieder.
Ich bin der Überzeugung, dass man sich für das Allgemeinwohl einbringen und dabei immer langfristige, nicht nur kurzfristige Perspektiven im Auge behalten sollte. Bei der Stadt Luxemburg war ich beispielsweise für Infrastrukturarbeiten zuständig. Natürlich geht es dabei auch darum, Löcher in Straßen zu stopfen. Aber dazu gehörte eben auch die Fragen: Wie kann man langfristig eine Stadt entwickeln, in der Menschen leben?
Zwischen 1999 und 2004 war ich Ministerin für Bildung und Sport. Auch in dieser Funktion war mein Anspruch, eine Gesellschaft mitzugestalten, in der jeder Einzelne seinen Platz finden und sich entfalten kann, nach seinen Möglichkeiten und mit seinem Wissen; in der jeder so leben kann, wie er möchte. Und so eine Gesellschaft müssen wir gemeinsam entwickeln.
Ihr Rat für heutige Studierende?
Zunächst: man sollte nicht eine Richtung wählen, in der es vorhersehbar keine berufliche Perspektive gibt. Man soll aber ansonsten das studieren, wozu man sich hingezogen fühlt. Das Universitätsstudium sollte nicht zu spezialisiert, sondern möglichst breit angelegt sein. Deswegen finde ich eine Zwei-Fächer-Wahl sehr gut. Ich könnte mir beispielsweise sehr gut vorstellen, dass Ingenieure auch ein Semester Philosophie belegen. Auf der Basis eines breit angelegten Studiums kann man sich später gut weiterbilden und spezialisieren.
Anne Brasseur Anne Brasseur (Jahrgang 1950) arbeitete nach ihrem Psychologie-Studium in Tübingen und Mannheim unter anderem im Service de Psychologie et d'Orientation scolaires einer Berufsschule und leitete den Service Central d’Assistance Sociale bei der Generalstaatsanwaltschaft Luxemburg. Sie saß – mit einer kurzen Unterbrechung – von 1975 bis 2009 für die Demokratische Partei (DP) im Stadtrat von Luxemburg und war außerdem 22 Jahre beigeordnete Bürgermeisterin. Seit 1979 ist sie Abgeordnete im luxemburgischen Parlament. Von 1999 bis 2004 war sie Ministerin für Erziehung, Berufsausbildung und Sport. Der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gehörte sie von 1995 bis 1999 und gehört sie wieder seit 2009 an, seit 2014 ist sie deren Präsidentin. Links: http://website-pace.net/web/apce/president http://assembly.coe.int/ASP/AssemblyList/AL_MemberDetails.asp?MemberID=5406 http://www.dp.lu/docs/sujet_docs/20090604_anne_brasseur_journal.pdf Rede von Anne Brasseur bei der Gedenkfeier des Europarats zum 100. Jahrestag des Attentats auf Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo (25.06.2014): http://bit.ly/1lVFjBy Europarat Der Europarat (französisch: Conseil de l’Europe) ist eine am 5. Mai 1949 durch den Vertrag von London gegründete europäische internationale Organisation mit Sitz in Straßburg. Der Europarat ist ein Forum für Debatten über allgemeine europäische Fragen. In seinem Rahmen werden zwischenstaatliche, völkerrechtlich verbindliche Abkommen, wie z. B. die Europäische Menschenrechtskonvention, mit dem Ziel abgeschlossen, das gemeinsame europäische Erbe zu bewahren und wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern. Die zwei statutären Organe des Europarats sind das Ministerkomitee sowie die Parlamentarische Versammlung des Europarates. Die Parlamentarische Versammlung zählt 318 Mitglieder und 318 Stellvertreter. Dabei hat jeder der 47 Mitgliedstaaten des Europarats eine feste Anzahl an Vertretern, die von der jeweiligen Bevölkerungszahl abhängt. Die Parlamente von Kanada, Israel und Mexiko, die nicht dem Europarat angehören, haben einen Beobachterstatus bei der Parlamentarischen Versammlung. Zu den Aufgaben der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gehören die Wahl des Generalsekretärs und des stellvertretenden Generalsekretärs des Europarats, die Wahl des Menschenrechtskommissars des Europarats sowie die Wahl der Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zählen. Die wichtigste politische Aufgabe besteht jedoch in der Schaffung eines politischen Dialogs zwischen den Parlamentariern der Mitgliedsstaaten sowie mit den Beobachter-Delegationen. Links: |
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