Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2015: Alumni Tübingen

Unterwegs in den Krisengebieten unserer Welt

Der Journalist Wolfgang Bauer studierte in den 1990er-Jahren Islamistik, Geographie und Geschichte an der Universität Tübingen

Der in Hamburg geborene Journalist Wolfgang Bauer kam in den 1990er-Jahren zum Studium der Islamistik, Geographie und Geschichte nach Tübingen. Heute lebt er in Reutlingen und reist als Reporter für die ZEIT regelmäßig an die Krisenherde dieser Welt. Sandra Rössler hat ihn für „Uni Tübingen aktuell“ interviewt.

Welche Erinnerungen verbinden Sie mit Ihrer Tübinger Studienzeit? Gab es einen Dozenten oder ein Seminar, das Sie besonders geprägt hat?

Ich hatte in Tübingen etliche Fächer ausprobiert und mich nirgendwo so richtig aufgehoben gefühlt. Das hat aber auch damit zu tun, dass ich nach nur zwei Semestern von der Lokalzeitung als fester Freier angeheuert wurde und ich mehr schrieb als studierte. Darunter litt dann das Studium erheblich. Am meisten habe ich von den Geografieseminaren und Exkursionen, die Professor Dr. Horst Förster leitete, mitgenommen. Von ihnen profitiere ich heute noch.

Wie hat Ihre Tübinger Zeit Sie insgesamt in Ihrer Berufswahl beeinflusst?

Das Studium hat mir klar gemacht, was ich nicht will. Es hat mir geholfen, herauszufinden, was ich kann und was ich möchte. Ich muss zugeben, dass sehr viele Dozenten damals, Mitte-Ende der 1990er Jahre, fachlich möglicherweise großartig waren, aber von der Vermittlung ihres Wissens nur wenig verstanden. Die Kunst des Studiums bestand für mich darin, sich von der zelebrierten Leidenschaftslosigkeit nicht anstecken zu lassen und in der Wüste einen Tropfen Wasser zu finden. Ich hoffe, dass die Dinge heute besser geworden sind, es mehr Dozenten gibt, die in ihren Studenten den Funken der Begeisterung entzünden können.

Gab es für Sie noch berufliche Alternativen zum Journalismus? Wenn ja, welche?

Ich hatte Neuere Geschichte studiert und spielte mit dem Gedanken, Archivar zu werden. Gut, dass das nicht geklappt hat. Ich bin sehr neugierig, aber kein sehr ordnungsliebender Mensch. Wehe dem Archiv, dessen Archivar ich geworden wäre!

Heute berichten Sie fast ausschließlich aus Kriegs- oder Krisengebieten. Waren diese von Beginn an im Fokus Ihres beruflichen Interesses?

Nein, das hat sich nach und nach ergeben. Ich hab' beim Schwäbischen Tagblatt in der Reutlinger Außenredaktion angefangen und über fast alles geschrieben: Regionalverbandssitzungen, Müllvolumenmessungen und Sommerfeste des Albvereins. Damals hatte ich für mich das Genre der Reportage entdeckt, die mich seither nicht losgelassen hat. Die mich jetzt auch bei der ZEIT weiterbegleitet. Diese Erzählform erlaubt mir, so viel übers Leben zu lernen wie sonst nirgendwo im Journalismus. Bei der Reportage kann ich in viele unterschiedliche Lebensentwürfe schlüpfen. Mich andocken und wieder ablösen. Bei der Krisenreportage natürlich wird dieses Prinzip auf die Spitze getrieben. Mich interessieren Fragen wie: was macht unser Leben aus? Was ist der Mensch, was sind seine Grenzen, wann und wo kann er sie überwinden? Deshalb interessieren mich Situationen, an denen wir an unsere Grenzen stoßen.

Welche Empfehlungen haben Sie für Studierende, die sich auf (Krisen-)Journalismus spezialisieren wollen?

Das lässt sich schlecht in wenige Zeilen fassen. Journalismus: bei einer guten Lokalzeitung andocken, sich von guten Redakteuren redigieren lassen, die was von Texten verstehen. Dort dann nicht nur viel schreiben, sondern auch viel über Dinge schreiben, die einen nicht interessieren. Die meisten machen den Fehler, nur über das schreiben zu wollen, was sie privat sowieso interessiert. Über Leute, die sie kennen oder ihre eigenen Hobbys. Man braucht viel Neugierde, um ein guter Journalist sein zu können, und etwas Wahnsinn. Dann gibt es trotz Medienkrise immer noch gute Möglichkeiten, im Markt unterzukommen. Krisenjournalismus: sich ganz langsam herantasten. Die eigene Psyche verstehen lernen. Nicht zu früh zu viel wagen. Unsere Nerven „brechen“ schnell. Und sie heilen meistens nicht so rasch wie unsere Knochen.

Sie haben erst kürzlich ein Buch veröffentlicht. Sie berichten darin über Ihre Erlebnisse, die Sie – selbst getarnt als Flüchtling – auf der Flucht mit einer Gruppe von Syrern nach Europa gemacht haben. Undercover-Einsätze sind in Ihrer Branche nicht selten. Welcher Ihrer bisherigen Einsätze war der schwerste?

Die Erfahrung, die dem Buch „Über das Meer“ zugrunde liegt, war sicher eine der extremsten. So lange mit einer anderen Identität zu leben. Mit einer erfundenen Familiengeschichte. Ich reagiere heute noch auf den Falschnamen Varj. Ich mache Undercovereinsätze nicht gerne, aber manchmal sind sie notwendig, weil sich viele wichtige Themen einer offenen Recherche entziehen. Die Schmuggler, aber auch die Flüchtlinge, hätten uns als Reporter nicht akzeptiert, aus Angst. Wir haben Monate gebraucht, bis wir die richtige, wasserdichte Legende für unsere Reise zusammen hatten. Von ihr hing unser Leben ab. Diese Legende dann zu leben, trotz der Vertrautheit und der Nähe, die sich zu Schmugglern und Flüchtlingen einstellt, ist sehr anstrengend.

Wo waren Sie zuletzt und wo geht es als nächstes hin?

Ich komme gerade aus der Elfenbeinküste, wo ich mit Freunden zusammen eine NGO betreibe, die sich um psychisch Erkrankte kümmert. Die werden dort häufig in den Dörfern angekettet, in sogenannten Gebetskreisen, um den Teufel auszutreiben. Ich kenne eine Frau, die war 25 Jahre an der Kette. Sie kann sich bis heute nicht aufrichten, weil ihr Rückgrat verkrümmt ist. Eine private Stiftung versucht, die Menschen von den Ketten zu holen und eine „moderne“ Psychiatrie aufzubauen, in denen die Patienten kostenlos behandelt werden. Wir haben jetzt von der Bundesregierung Gelder bekommen, um die Akutpsychiatrie für die Frauen zu renovieren. Deswegen war ich jetzt dort unten.
Wo es als Nächstes hingeht? Darf ich nicht verraten. Eine Reportage für das Dossier der ZEIT, in einer Gegend dieser Welt, wo ich eher schwitzen werde als frieren.

Weitere Informationen:

http://www.wolfgang-bauer.info/index_2.html
http://www.suhrkamp.de/buecher/ueber_das_meer-wolfgang_bauer_6724.html
http://www.kettenmenschen.de/