Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2020: Leute

Hartnäckig zur Erkenntnis der Radikale

Zum Tode von Professor Dr. Anton Rieker ein Nachruf von Bernd Speiser

Mit dem Tod des Chemikers Anton Rieker hat die Universität ein Mitglied verloren, das die Entwicklung des Faches Chemie über viele Jahrzehnte gestaltete und begleitete, wie die folgenden Schlaglichter zeigen. 

Am 3. September 1931 in Kirchheim/Teck geboren, betritt Anton Rieker im Herbst des Jahres 1951 erstmals die „Nachkriegsuni“ (H. Bausinger), die ihn danach nicht mehr loslassen sollte. Bevor ein Student in dieser Zeit einen Praktikumsplatz einnehmen kann, muss er einen „allgemeinen Dienst“ für das Institut leisten. Für Anton Rieker bedeutet dies — heutzutage undenkbar — die Mithilfe im Universitätsgärtchen und in der Chemikalienausgabe. Das Studium schließt er 1959 mit der Diplomarbeit ab, die schon Elektronentransferreaktionen behandelt, eines der Forschungsthemen, das ihn zeitlebens beschäftigt.

Die Dissertation (1961) widmet sich „chemischen Radikalen“, Verbindungen, die ungepaarte Elektronen enthalten und daher meist sehr reaktiv sind. Unter bestimmten Voraussetzungen allerdings werden sie stabil und handhabbar. Die Frage nach der inneren Dynamik von Molekülen, der man mit einer damals noch relativ neuen Methode, der Kernresonanzspektroskopie, auf die Spur kommen wollte, schließt sich an. Kernresonanzspektrometer wurden zu unverzichtbaren Werkzeugen des Chemikers, heute selbst in der Medizin (Computertomographie) benutzt. Für die Erforschung des CIDNP-Phänomens in der Kernresonanz leistet Anton Rieker Pionierarbeit. 

Nach der Ernennung zum Universitätsdozenten (1968) wird er 1970 zum ersten Prodekan des neuen Fachbereichs Chemie gewählt, 1972 zum außerplanmäßigen Professor und 1974 zum Wissenschaftlichen Rat und Professor ernannt.

Die Chemie biologischer Prozesse ist da ein zentraler Punkt in Anton Riekers wissenschaftlicher Arbeit geworden: die Darstellung von Oxepinen, die Zwischenprodukte der Oxidation von Aromaten in biologischen Systemen sind und bei der Krebsentstehung eine Rolle spielen können, die Nutzung „biomimetischer“ (die Natur nachahmender) Katalysatoren, die Synthese von Peptiden. Es folgt schließlich die Anwendung der Elektrochemie für die organische Synthese. 

Anton Rieker war der Inbegriff des forschenden Lehrers. Als wissenschaftliches Vorbild vermittelte er die essentielle Bedeutung des immer wieder neu formulierten Befragens der Natur, bis ein Phänomen erklärbar wird. Rastlos behielt er einen Überblick über die Literatur der organischen Chemie und ihrer Grenzgebiete. Immer wieder publizierte er Arbeiten, in denen er fehlerhafte Interpretationen in der Literatur zurechtrückte. Er war nie bequem, wenn es um den wissenschaftlichen Disput ging, hat sich selbst nie geschont, aber auch Mitarbeitern und Kollegen alles abverlangt. 

Sein außergewöhnliches didaktisches Geschick bewies er im Hörsaal: bekannt war er für spannende Vorlesungen mit klarem Tafelbild und überzeugenden Argumenten. „Generationen“ von Biologen werden sich erinnern, wie er ihnen im Nebenfach die Grundzüge der Paarung der Elektronen mit lebensnahen Beispielen oder die Molekülschwingungen bei der Infrarotspektroskopie mit vollem Körpereinsatz veranschaulichte. Schon früh baute Anton Rieker auch Kontakte zu ausländischen Kollegen auf, wobei insbesondere Osteuropa und dann immer mehr Japan im Mittelpunkt standen. 

Seine Hartnäckigkeit und sein wissenschaftlicher Anspruch werden vielleicht durch folgende von ihm selbst erzählte Anekdote am besten charakterisiert: Im Jahre 1966 zerstört ein unverschuldeter Brand sein Labor, damals im Chemischen Institut an der Wilhelmstraße (heute: Parkplatz „Alte Chemie“). Die Glasgefäße, in denen Chemiker ihre wertvollen Präparate herstellen und aufbewahren, zerbersten in der Hitze. Ein einziger Kolben bleibt ganz. Anton Rieker extrahiert den Inhalt — und findet darin eine Substanz, die zu synthetisieren er zuvor lange Zeit vergeblich versucht hat. „Aber“, so setzte er später knitz hinzu, „ich konnte das Ergebnis nie publizieren, denn dieses Experiment war ja nicht reproduzierbar!“ 

Auch nach dem Eintritt in den Ruhestand (1996) blieb er dem Institut für Organische Chemie und seinen Mitgliedern verbunden, bis ihn 2010 ein Schlaganfall ereilte. Von den Folgen erholte er sich mit starkem Willen so weit, dass er das Universitätsgeschehen eifrig weiter beobachten und kritisch kommentieren konnte. Nun ist er am 10. Dezember 2019 nach langer Krankheit verstorben.