Die Tübinger Bioinformatiker Juniorprofessor Dr. Andreas Dräger, Alina Renz und Lina Widerspick, vom Lehrstuhl für Rechnerbasierte Systembiologie der Infektionen konnten ein mögliches Wirkstoffziel zur Bekämpfung der Infektionskrankheit COVID-19 finden. In sog. Flussbilanzanalysen (FBA) stoppte das Ausschalten eines menschlichen Enzyms die Vermehrung des Virus, ohne das Zellwachstum zu beeinträchtigen. Für ihren Ansatz haben sie ein integriertes Computermodell mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 und menschlichen Alveolarmakrophagen verwendet. Bei dem dabei identifizierten Wirkstoffziel handelt sich um das Enzym Guanylatkinase (GK1). GK1-Inhibitoren sind bereits in der Literatur beschrieben; ihre potenzielle therapeutische Wirkung für COVID-19-Infektionen soll jetzt experimentell überprüft werden.
Wir haben ab Januar 2020 untersucht, welche Zelltypen bei der Infektion des Menschen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 eine Rolle spielen. Dazu zählen neben Ephithelzellen des Rachenraumes und Lungenzellen auch humane Alveolarmakrophagen. Das Besondere: für letztere existiert bereits ein komplexes und sehr spezifisches Computermodell, das wir für unseren systembiologischen Forschungsansatz weiterentwickeln konnten.
Unsere Ausgangssituation im Modell ist, dass das Virus (SARS-CoV-2) in den Wirt (die Alevoelarmakrophage) eingedrungen ist und diesen bereits umprogrammiert hat. Biochemische Reaktionen, die das Virus im Wirt verwendet, sind also bereits in das Modell integriert und aktiviert.
Das Modell geht davon aus, dass das Virus neue Viruspartikel herstellen und sich ausbreiten will. Dazu entnimmt das Virus Materialien aus dem Wirt und „zwingt“ die Alveolarmakrophagen zur Produktion neuer Virenbestandteile.
Um das genauer zu verstehen, haben wir zunächst die Zusammensetzung des Virus analysiert: wieviel Prozent sind Aminosäuren, wieviel wie ist die Hülle aufgebaut, wie viele Nukleotide benötigt die virale RNA usw.? Anschließend haben wir berechnet, welches Material benötigt wird, um ein Viruspartikel herzustellen.
Im nächsten Schritt haben wir uns angeschaut, was passiert, wenn die Makrophagenzelle gezwungen wird, möglichst viel entsprechendes Material bereitzustellen. Wie verändert sich die Aktivität der Zelle im Vergleich zum Normalzustand ohne Virus? Wir konnten feststellen, dass einige biochemische Reaktionen in der Wirtszelle mit Virus deutlich verändert und aktiver werden.
Wir haben systematisch versucht, die verschiedenen durch das Virus im Wirt ausgelösten Reaktionen auszuschalten. Unser Ziel war es, zu verstehen, welcher Prozess das Virus am meisten in seiner Vermehrung stört. Dabei ist uns das Enzym Guanylatkinase (GK1) als ein mögliches und besonders wirksames Wirkstoffziel aufgefallen. In unseren Flussbilanzanalsyen (FBA) konnten wir die Vermehrung des Coronavirus durch Ausschalten von GK1 stoppen – ohne, dass dadurch das Zellwachstum beeinträchtigt wurde.
GK1 spielt auch bei anderen Viruserkrankungen eine Rolle. Es ist ein Enzym, das nicht vom Coronavirus mitgebracht wird, sondern in den Alveolarmakrophagen – dem Wirt – vorkommt. Das Enzym ist aber gleichzeitig ein wichtiger Baustein bei der Herstellung von Ribonukleinsäure (RNA), aus der das Genom des Coronavirus besteht. Das Virus ist daher zur Herstellung neuer Virenpartikel auf viel RNA angewiesen und benötigt zur eigenen Reproduktion die Guanylatkinase. Die menschliche Zelle kann, im Gegensatz zum Virus, für sie wichtige Folgeprodukte aber auch auf Umwegen herstellen.
Für GK1 sind in der wissenschaftlichen Literatur bereits verschiedene Inhibitoren beschrieben, die dieses Enzym ausschalten. Im nächsten Schritt möchten Kooperationspartner von uns aus dem Bereich der Virologie im Experiment verschiedene bereits als Wirkstoff zugelassene GK1-Inhibitoren auf ihre Wirksamkeit gegen den Coronavirus SARS-CoV-2 testen. Im Erfolgsfall könnte relativ schnell eine Therapie gegen das Coronavirus zugelassen werden. Sollte es dagegen notwendig sein, für unseren Ansatz zur Ausschaltung von GK1 einen neuen Wirkstoff zu entwickeln, wird der Prozess deutlich länger dauern.
Das Interview führte Maximilian von Platen
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