Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2021: Forum

„Guerilla-Marketing“ für die Medizinethik: nicht nur informieren, sondern zur Meinungsbildung anregen

Für seine ungewöhnlichen Ansätze wurde Robert Ranisch mit dem Nachwuchspreis für Wissenschaftskommunikation der Universität Tübingen ausgezeichnet

Robert Ranisch spricht im Interview über aktuelle Fragen der Medizinethik, den Sinn von Ethikräten und seine Ideen für eine moderne Wissenschaftskommunikation

Welche Fragestellungen interessieren Sie in der Medizinethik?

Ich bin über Umwege zur Ethik gekommen. Ursprünglich wollte ich Kunst oder Design studieren. Eine Ausschreibung zur Gestaltung eines Logos für ein Ethikinstitut hat mich zum Fach gebracht: Als ich eine Vorstellung davon bekam, woran und wie die Forscher dort arbeiteten, habe ich mich an einem philosophischen Seminar eingeschrieben. Mich faszinierte die Möglichkeit, Wertefragen nicht einfach aus dem Bauch heraus zu beantworten, sondern mit fundierten Begründungen. Heute sind es vor allem Themen, die mit der Gentechnologie und der Digitalisierung in Verbindung stehen, die mein Interesse immer wieder packen. 

Sind Ethikräte und Ethik-Komitees nur ein Feigenblatt oder was können sie tatsächlich bewirken? 

Die Verteilung von Impfstoff oder Krankenhausbetten, mögliche Privilegien für Geimpfte, die digitale Kontaktverfolgung durch die Corona-Warn-App und eine ganze Reihe an gegenwärtig heiß diskutierten Themen berühren Themen der Ethik. Ganz neu sind diese Fragestellungen dabei nicht. Die Corona-Pandemie wirkt allerdings wie ein Brennglas und so verdichten sich plötzlich Herausforderungen in der Wirklichkeit, die bislang eher Gedankenexperimente in Seminaren waren. Dass die Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Ethikrat oder anderen Institutionen seit einem Jahr Überstunden leisten, ist daher sicherlich kein Zufall. 

Ethische Beratungsgremien können als PR-Maßnahme eingesetzt werden, um die Verantwortung von Politik, Wissenschaft, Medizin zur Schau zu stellen. Sie können aber auch mehr: Gerade in beschleunigten Zeiten ist es sinnvoll, Institutionen in gewisser Weise von Zeit- und Sachzwängen zu befreien. Beratungsgremien zur Ethik haben dann eine ähnlich wichtige Funktion wie Expertenkommissionen zu Fragen der Wirtschaft, Umwelt oder Technologie. 

Zugleich müssen wir uns aber auch vor überzogenen Erwartungen in Acht nehmen. Ethisches Denken verhilft uns dabei, gute Gründe zu finden: Warum wir beispielsweise bei der gegenwärtigen Impfstrategie zunächst ältere Menschen bevorzugen sollten. Oder warum das Alter gerade kein Kriterium sein darf, wenn es um die Triage geht. Nicht mehr und nicht weniger kann die Ethik leisten. Urteile sind dabei selten schwarz oder weiß. Das mag manche enttäuschen, die sich nach mehr Verbindlichkeiten sehnen.

Sie sind Mitglied der AG „Ethik in der Pflege“ am Universitätsklinikum Tübingen. Wie können Pflegekräfte in wichtige Entscheidungen auf den Stationen besser eingebunden werden?

Seit knapp zwanzig Jahren versucht „Ethik in der Pflege“ ein Austauschforum für Beschäftigte des UKT bereitzustellen, getragen durch großes Engagement von Pflegekräften, von Seelsorgerinnen und Seelsorgern sowie anderen Kolleginnen und Kollegen. Die Arbeitsgruppe ist ein Teil des Klinischen Ethik-Komitees. Diese Komitees organisieren an Kliniken das Angebot für Ethikberatungen in sensiblen Entscheidungssituationen. Was soll beispielsweise mit Opa geschehen, wenn dieser seinen Willen nicht mehr äußern kann, die Medizin noch lebenserhaltende Maßnahmen kennt, seine Angehörigen sich aber fragen, ob er sich so eine Behandlung überhaupt gewünscht hätte?  

In solchen Situationen kann Ethikberatung sehr gut funktionieren, hat aber auch ihre Grenzen. Jeden Tag stehen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Heilberufe vor ethischen Fragen, manchmal ist es einfach nur ein schlechtes Bauchgefühl. Natürlich greift man da nicht gleich zum Hörer und ruft das Ethik-Komitee an. Diese Fragen sind aber trotzdem wichtig, stehen sie doch mit dem Wohl von Patientinnen und Patienten, aber auch der Belegschaft in Verbindung. Die AG hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, die Ethikkompetenz dezentral auf den Klinikfluren zu stärken. Gemeinsam mit der Stabsstelle Pflegeorganisation wird gerade am UKT ein Pilotprojekt erprobt, welches auf jeder Station sogenannte Ethikbeauftragte ausbildet. Diese sollen als erste Ansprechpersonen fungieren und die Entscheidungsfindung vor Ort unterstützen.

Wo sehen Sie als Leiter der Forschungsstelle „Ethik der Genom-Editierung“ Grenzen für die Genforschung?

Die Frage nach einer gemeinsamen Wertgrundlage für medizinethische Fragen ist nicht so leicht zu beantworten. In unserer Denkkultur kreisen die Überlegungen um die Selbstbestimmung sowie das Wohl von Individuen – also letztendlich um die Frage, wie auf gerechte Weise ein Interessenausgleich gefunden werden kann. Das internationale Wettrennen um die Anwendung der Genom-Editierung zeigt allerdings auch, dass weltweit andere Perspektiven und Rationalitäten eine immer größere Anhängerschaft finden. Es ist eine der wesentlichen Herausforderungen der Postmoderne, eine gewisse Toleranz und Offenheit im Sinne der Freiheit der Forschung zu wahren und trotzdem mit guten Gründen für die eigenen Werte einzustehen. 

Für das gemeinsam mit Julia Diekämper konzipierte Projekt „ZukunftMensch“ sind Sie mit dem neu geschaffenen Nachwuchspreis für Wissenschaftskommunikation der Universität Tübingen ausgezeichnet worden. Erzählen Sie von diesem Projekt.

Das bekannteste Beispiel für die Genom-Editierung sind Keimbahneingriffe beim Menschen. Dabei werden Embryonen verändert, um beispielsweise vererbbare Krankheiten zu verhindern. Prinzipiell lassen sich damit aber auch ganz bestimmte genetische Merkmale fördern, d.h. Keimbahneingriffe erlauben auch die Manipulation von Genen ohne Krankheitsbezug. 

Bei einer solchen Technologie, die das Potenzial besitzt, den Lauf der menschlichen Evolution zu beeinflussen, sollte es breite Beteiligungsprozesse geben - alle Kreise der Gesellschaft sollten hier mitreden. In der Praxis fehlt es jedoch häufig an Ideen und Formaten, wie die Öffentlichkeit erreicht werden kann. Hier haben wir angesetzt: Das Projekt ZukunftMensch war eine Einladung zur Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der technischen Selbstgestaltung. Wir haben Orte aufgesucht, wo man das Thema vielleicht nicht gerade erwartet: Durch Gespräche in Kinos, Installationen im Naturkundemuseum Berlin, Postkarten in Kneipen und einigen weiteren Aktionen wollten wir den Austausch über Fragen der Gentechnik fördern. Wir haben „Guerilla-Marketing“ für die Medizinethik betrieben und wollten mit ungewöhnlichen Aktionen eine große Zahl an Menschen erreichen. Unser Ziel: nicht nur informieren, sondern zur Meinungsbildung anregen.  

Wie muss generell eine moderne Wissenschaftskommunikation aus Ihrer Sicht gestaltet werden?

Wir sollten uns abgewöhnen, die öffentliche Abendveranstaltung als Goldstandard der Wissenschaftskommunikation zu erachten. Zugleich müssen aber auch nicht alle Forscher*innen ihre Zeit nun auf TikTok oder Instagram verbringen. Es bedarf meist gar nicht moderner Formen oder neuer Formate. Vielmehr scheint es mir häufig an der Bereitschaft zu mangeln, sich überhaupt ernsthaft auf einen Dialog mit der Gesellschaft einzulassen. 

In meiner Rolle als Forscher kenne ich die Zurückhaltung nur zu gut: Wissenschaftskommunikation ist nicht Teil meiner Tätigkeitsbeschreibung und in meinem Studium war davon nie die Rede. Wie soll ich die Finessen einer Argumentation in 280 Zeichen auf Twitter erzählen? Und nehmen mich meine Kolleginnen und Kollegen danach überhaupt noch ernst? Es fehlt nicht nur an Interesse und Zeit, sondern auch an Wissen um erfolgreiche Methoden und dem Mut, hier etwas auszuprobieren. 

Das dahinterliegende Problem ist freilich ein anderes: Es gibt schlichtweg zu wenige Honorierungsmechanismen für Forschende, ihre Arbeit für eine breite Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Impact-Faktoren sind unsere Währung, für den kommunikativen Impact von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern interessiert sich keiner. 

Umso mehr freue ich mich, dass die Universität Tübingen erstmals einen Preis für Wissenschaftskommunikation ausgelobt hat. Aber hier gibt es noch einiges zu tun: Gerade viele Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler würden sich über mehr Anerkennung und Unterstützung in ihren Kommunikationsbemühungen glücklich schätzen

Sie arbeiten beratend bei den beta stories mit, einem neuen Format für Wissenschaftskommunikation. Was ist das Besondere an den beta stories?

Der Bayrische Rundfunk hat dieses neue Format Ende letzten Jahres gestartet. Beta stories sind kurze Dokumentationen zu Zukunftsthemen, mit einem starken Bezug zu Wissenschaft und Technik. Die Sendungen widmen sich etwa der Genom-Editierung, der Diskriminierung durch Algorithmen oder dem Fleisch aus dem Labor – immer mit einem Blick auf ethische Fragen. Gerade wurde die zweite Staffel ausgerollt. Die Kurz-Dokus sind auf YouTube und in der ARD-Mediathek zu finden. Teil dieses Experiments ist ein Gremium von - mit mir - acht Expertinnen und Experten aus ganz unterschiedlichen Disziplinen, die die Entstehung dieser Formate begleiten. 

Ich halte beta stories für einen wunderbaren Versuch, in Zeiten von Fake News, alternativen Fakten und Co. auch ein jüngeres Publikum für gut recherchierte Themen der Wissenschaft zu begeistern.

Das Interview führte Maximilian von Platen

Robert Ranisch

Dr. Robert Ranisch war bislang als Akademischer Rat am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften tätig. Zum 1. April 2021 wurde er auf die Tenure-Track-Professur für Medizinische Ethik mit Schwerpunkt auf Digitalisierung an der Universität Potsdam berufen. Der Universität Tübingen bleibt er als Leiter der Forschungsstelle „Ethik der Genom-Editierung“ am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin erhalten. In Forschung und Lehre widmet er sich verschiedenen Feldern der Ethik in den Wissenschaften, an der Schnittstelle von Technologie, Gesellschaft und Politik.

Webseite Projekt ZukunftMensch

Webseite Beta stories

Tübinger Preis für Wissenschaftskommunikation

Der Tübinger Preis für Wissenschaftskommunikation wurde 2020 ins Leben gerufen und 2021 erstmals vergeben. Die Auszeichnung soll Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Tübingen dazu motivieren, über die Methoden und Ergebnisse ihrer Forschung in einen intensiven Dialog mit der Gesellschaft einzutreten. Der Preis wird am 2. Juli 2021 im Rahmen der „Langen Nacht der Wissenschaft“ vergeben, einer Informationsveranstaltung für die breite Öffentlichkeit. Für die Auszeichnung des Jahres 2021 wurden insgesamt 26 Forscherinnen und Forscher, wissenschaftliche Projekte und Einrichtungen nominiert. Der Hauptpreis ist mit 10.000 Euro dotiert, der Nachwuchspreis mit 5.000 Euro.

Webseite Preis für Wissenschaftskommunikation

Video beta stories zu Genschere CRISPR

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