Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2022: Forschung
Keine Rücksicht auf diplomatische Spielregeln: Putin auf historischer Mission
Warum der russische Präsident eine Orientierung der Ukraine nach Westen verhindern will
Am 21. Februar 2022 hat der russische Präsident Wladimir Putin die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk in der Ostukraine als unabhängige Staaten anerkannt. Nur drei Tage später befiehlt er einen Angriff auf die Ukraine. Für die Legitimierung seiner aggressiven Außenpolitik beruft Putin sich wiederholt auf die Geschichte. Professor Dr. Klaus Gestwa vom Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde analysiert im Interview die Motivation Putins und die Hintergründe des Russland-Ukraine-Konflikts.
Was treibt Putin bei seiner Außenpolitik an?
Die momentane russische Außenpolitik hat ihre Ursache in einer schleichenden Legitimationskrise: Dem Kreml fehlt ein attraktives Zukunftsmodell für die russische Politik und vor allem auch für die Wirtschaft. Russland hängt wirtschaftlich immer noch sehr stark von seinen Gas- und Ölexporten ab. Mit der eingeleiteten Dekarbonisierung der Volkswirtschaften werden fossile Brennstoffe aber über kurz oder lang an Bedeutung verlieren. Dennoch drängt das „Putin-Syndikat“ – wie die Politologin Margareta Mommsen die russische Machtelite bezeichnet – darauf, die politische Halbwertszeit dieses veralteten Wirtschaftsmodells zu verlängern. Die dringend notwendige ökologische und technologische Transformation der russischen Volkswirtschaft wird dagegen hinausgeschoben. Vor diesem Hintergrund macht sich in der russischen Gesellschaft das Gefühl breit, dass die Wirtschaft stagniert und die eigenen Zukunftschancen des Landes verspielt werden. Die gesellschaftliche Stimmung befindet sich auf einem Abwärtstrend, die Corona-Situation hat ebenfalls noch dazu beigetragen. Die Folge: Die Zustimmungswerte für Putin lagen zuletzt nur noch bei rund 60 Prozent. Das stellt eine ernsthafte Bedrohung für sein autoritäres Regime dar.
Die Außenpolitik und die Demonstration militärischer Stärke werden in der aktuellen Ukraine-Krise also gezielt eingesetzt, um von innenpolitischen Problemen und der ökonomischen Schwäche Russlands abzulenken. Hier kann man Parallelen zum Jahr 2014 mit der russischen Annexion der Krim feststellen.
Auch bei Putin selbst kann man einen entsprechenden Paradigmenwechsel beobachten: Er tritt öffentlich nicht mehr wie vor 2012 als Reformer und Modernisierer, sondern vielmehr als Feldherr in Erscheinung, und ist auf Fotos und im Fernsehen häufig in Uniform und mit Kriegsgerät zu sehen.
Wie instrumentalisiert der russische Präsident Geschichte für die Legitimierung seiner Politik?
Bereits seit mehreren Jahren tritt Putin als „Chefhistoriker“ Russlands auf und verfasst Aufsätze, in denen er seine persönliche Interpretation der russischen Geschichte manifestiert. Diese beruht dabei nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern verfolgt in erster Linie das Ziel, unbequeme historische Wahrheiten zu „entsorgen“.
Putin hat Russlands bedeutendste zivilgesellschaftliche Organisation Memorial verbieten lassen, die sich um die Aufarbeitung des stalinistischen Staatsterrors und weiterer Schattenseiten der Sowjetgeschichte verdient gemacht hat. Stalin erscheint in seinem Geschichtsbild dagegen nicht mehr als brutaler Despot und Menschenschlächter, sondern als durchgreifender Industrialisierungsmanager und Kriegstriumphator. Stalins Dämonisierung dient dagegen aus seiner Sicht nur dazu, Russlands internationalem Ansehen zu schaden und die russische Gesellschaft zu spalten.
Lenin kam in Putins Rede vom 21. Februar 2022 hingegen schlechter weg als Stalin: Anstelle eines auf Moskau ausgerichteten Machtzentrums habe Lenin dem neuen Sowjetimperium eine föderale Ordnung gegeben und damit überhaupt erst die „Wladimir-Lenin-Ukraine“ als eigenständige Sowjetrepublik geschaffen. Die Kiewer Führung habe dann 1991 den Austrittsparagrafen in der sowjetischen Verfassung genutzt, um ihre Eigenstaatlichkeit zu erklären. Putin macht Lenin also verantwortlich für die nach seinen Worten „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“: den Zusammenbruch der Sowjetunion. Das Existenzrecht der Ukraine negiert Putin in seiner Rede explizit, unter anderem mit Verweis auf das zaristische Imperium, in dem es auch kein ukrainisches Staatsgebilde gegeben habe.
Damit greift Putin ein Narrativ aus seinem Beitrag „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ vom Juli 2021 wieder auf: Auch hier spricht er der Ukraine als Staat und Nation das Existenzrecht ab und erklärt, Russen, Ukrainer und Belarussen seien Teil einer „großen russischen Nation, eines dreieinigen Volkes“. Die Idee einer großrussischen Union findet sich bereits in einem Essay des russischen Literaturnobelpreisträgers Alexander Solschenizyn aus dem Jahr 1990, und sie ist bis heute in der russischen Bevölkerung sehr populär. Wladimir Putin nutzt diese Idee für die Legitimierung seiner imperialistischen Ideologie: Die Ukraine bildet den Kern des russischen Einflussgebiets, und entsprechend gilt die Hegemonie über die Ukraine als Axiom russischer Machtpolitik.
Auch die NATO-Osterweiterung führt Putin zur Legitimierung seiner Außenpolitik an.
Tatsächlich ist es nicht gelungen, in den 1990er- und zu Beginn der 2000er-Jahre eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur aufzubauen, in die Russland fest eingebunden ist. Auch im 2002 etablierten NATO-Russland-Rat wurden nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, sich über gegenseitige Befindlichkeiten und Sicherheitsinteressen zu verständigen. Aber Putins völkerrechtswidriges Vorgehen auf der Krim 2014 und jetzt im Donbass mit Verweis auf die NATO-Osterweiterung als politische Notwehr zu deklarieren, ist mehr als fragwürdig. Die NATO hat sich nur politisch, aber nicht militärisch nach Osteuropa erweitert. Seit 2004 hat sie kein Land mehr aufgenommen und auch der NATO-Beitritt der Ukraine steht aktuell – seit dem NATO-Gipfel 2008 – nicht mehr auf der politischen Agenda. Nicht zuletzt ging die Initiative der Osterweiterung nicht von der NATO aus, sondern die mitteleuropäischen Staaten sind von sich an die NATO herangetreten, weil sie sich von den in der russischen Politik seit den frühen 1990er-Jahren immer wieder geäußerten neoimperialen Ambitionen bedroht sahen. Dass sie damit nicht ganz falsch lagen, verdeutlicht die aktuelle Ukraine-Krise.
Wie stark identifizieren sich die Menschen in der Ukraine mit ihrem Staat?
Die Annexion der Krim und die russische Aggression in der Ostukraine 2014 haben nicht zu der erwarteten Zerrissenheit der Ukraine in einen pro-westlichen und pro-russischen Teil geführt. Die russische Außenpolitik hat im Gegenteil zu einer deutlich stärkeren Verbundenheit der Bevölkerung mit dem ukrainischen Staatswesen beigetragen. Ein populärer Slogan lautet: „Wir wollten nach Europa, haben aber stattdessen die Ukraine gefunden.“ Gleichwohl gibt es auch in der ukrainischen Bevölkerung ein Gefühl der Verbundenheit mit Russland. Aber man legt deutlich mehr Wert auf seine staatliche und kulturelle Eigenständigkeit.
Die Einschätzung der Lage in den selbsternannten Volksrepubliken im Donbass ist dagegen schwierig, denn es gibt keine repräsentativen Meinungsumfragen für diese Region. Mehr als 1,5 Millionen Menschen haben das Gebiet seit 2014 verlassen, die meisten in Richtung Ukraine, die anderen nach Russland. Viele derjenigen, die noch in den Gebieten um Donezk und Lugansk leben, haben mittlerweile einen russischen Pass. Sie gelten damit als russische Staatsbürger, zu deren Schutz der Kreml intervenieren kann. Nach einem vermeintlichen Hilfegesuch der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk hat Putin dies am 24. Februar getan – mit einem Angriff auf die Ukraine.
Sehen Sie Chancen für eine Änderung der russischen Politik?
Wie es in der Krisenregion weitergeht und wie groß die internationale Tragweite der Krise sein wird, ist momentan schwer abzuschätzen. Ich persönlich bin eher pessimistisch.
Die Entwicklung der letzten Tage hat gezeigt, dass Putin mit seinen politischen Vorstellungen in einer ganz eigenen Welt lebt. Die Vorwürfe, es gebe in der Ukraine einen Genozid an Menschen russischer Herkunft, ein neues Atomwaffenprogramm sowie militärische Angriffspläne, entbehren jeglicher Grundlage. Trotz der bemühten Krisendiplomatie hat sich Putin nicht auf ernsthafte Verhandlungen eingelassen. Der Ablauf der politischen Geschehnisse spricht dafür, dass sich der Kreml schon vorab für eine Anerkennung der beiden selbsternannten Volksrepubliken im Donbass und für einen Einmarsch entschieden hat.
Als Bewahrer bzw. Wiederhersteller des russischen Imperiums sieht Putin sich auf einer historischen Mission und nimmt deswegen keine Rücksicht auf diplomatische Spielregeln. Darauf muss die Welt sich einstellen.
Das Interview führte Maximilian von Platen