Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2022: Forschung

Philipp Berens erhält ERC Starting Grant für die Entwicklung eines neuen Modells der Netzhaut

Projekt an der Schnittstelle von visueller Neurowissenschaft und maschinellem Lernen wird von der EU mit 1,5 Millionen Euro gefördert

Professor Dr. Philipp Berens vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde des Universitätsklinikums und der Universität Tübingen erhält einen Starting Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC). Sein Projekt „NextMechMod“ zur Entwicklung neuer Modelle und Algorithmen für die Erforschung der Amakrinzellen, spezieller Nervenzellen in der Netzhaut des Auges, wird über einen Zeitraum von fünf Jahren mit insgesamt rund 1,5 Millionen Euro gefördert. Mit den Starting Grants stattet der ERC herausragende junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit zusätzlichen Mitteln in ihrer Forschungskarriere aus.

Das Sehen ist für viele Tiere wie auch den Menschen einer der wichtigsten Sinne. Doch ist die Netzhaut des Auges, die auch Retina heißt, bis heute nicht vollständig erforscht. Vor allem die Amakrinzellen stellen die Forschung noch vor Rätsel. Diese speziellen Nervenzellen sind mit den anderen Nervenzellschichten der Netzhaut querverschaltet und bilden die Hauptklasse hemmender Zellen. Aus der Retina der Maus sind inzwischen mehr als 60 Typen von Amakrinzellen bekannt – sie unterscheiden sich zum Beispiel durch ihr Aussehen, ihre Funktion und ihre Verschaltung. Für die Modellierung sind sie besonders herausfordernd, da ihre Aktivität nur schwer gemessen werden kann und sich ihre Funktion nur aus ihrer Verschaltung im Netzwerk ergibt.

Um ihre Rolle besser zu verstehen, entwickelt Philipp Berens mit seinem Team in seinem ERC-Projekt „Next generation mechanistic models of retinal interneurons“ (NextMechMod) eine neue Art von Modellen. Modelle haben in der Geschichte der Erforschung der Informationsverarbeitung im Nervensystem immer eine wichtige Rolle gespielt. Alan Lloyd Hodgkin und Andrew Fielding Huxley erhielten 1963 den Medizinnobelpreis für ihr 1952 vorgestelltes biophysikalisches Modell der Ionenströme bei der Erregung und Hemmung an der Nervenzellmembran. Dieses Modell ist zwar sehr detailliert, aber schwierig an gemessene Daten anzupassen. Dies ist für statistische Modelle leichter, diesen fehlt aber der Bezug zur biologischen Realität. 

Um die jeweiligen Stärken zu nutzen, möchte Berens eine neue Generation eines hybriden mechanistischen Modells entwickeln, das die verschiedenen Modellebenen vereint. Dabei nutzt er die neuesten Fortschritte im maschinellen Lernen und im Bereich „Computational Neuroscience“. Sein Team arbeitet eng mit Kooperationspartnern zusammen, um die Modelle mit Daten, die aus bildgebenden Techniken und mit Methoden der Genetik gewonnen werden, realistisch zu gestalten. Damit will er einen Werkzeugkasten entwickeln, um die Rolle der Amakrinzellen während der natürlichen Verarbeitung der Sehinformationen entschlüsseln zu können. Ein besseres Verständnis der Funktionen des gesunden Auges kann die Grundlage für neue Therapien von Augenerkrankungen bilden.

Philipp Berens studierte Bioinformatik und Philosophie an der Universität Tübingen und wurde hier auch 2013 promoviert. Nach einer Zeit als Postdoktorand am Bernstein Center for Computational Neuroscience kam er 2016 als Forschungsgruppenleiter an das Tübinger Forschungsinstitut für Augenheilkunde. Dort wurde er 2018 auf eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Heisenberg-Professur für „Data Science für die Sehforschung“ berufen. Gemeinsam mit Professorin Ulrike von Luxburg leitet Philipp Berens den Exzellenzcluster „Maschinelles Lernen: Neue Perspektiven für die Wissenschaft“. Er ist Mitglied des Tübingen AI Center.