Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2023: Forschung

Auch Begabtenförderung ist Bestandteil von Bildungsgerechtigkeit

Das Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung veranstaltet am 15. November den Tag der Hochbegabung.

Hochbegabung ist ein Forschungsschwerpunkt am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung, zentrale Frage dabei: Wie kann eine wirksame Förderung von begabten Kindern und Jugendlichen aussehen? Ein Interview mit der Bildungsforscherin Jessika Golle.

Frau Golle, was ist eigentlich Hochbegabung?

Begabung verstehen wir am Hector-Institut als leistungsbezogenes Entwicklungspotenzial.  Bei einem außerordentlich hohen Potenzial in einem oder mehreren Leistungsbereichen – wie Mathematik oder Musik –, spricht man auch von Hochbegabung. Diese Begabung ist jedoch nicht in Stein gemeißelt; sie erfordert Förderung und damit ein unterstützendes Umfeld.

Es gibt verschiedene Definitionen bzw. Konzeptionen von Hochbegabung. Der am weitesten verbreitete Ansatz basiert auf dem Intelligenzquotienten (IQ), wobei Werte größer gleich 130 als hochbegabt gelten. Dennoch ist der IQ allein nicht ausreichend, um Potenzial in Leistung umzuwandeln. Andere Faktoren wie Motivation, Kreativität, Ausdauer und Umwelteinflüsse spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle.

In der Regel gelten zwei bis drei Prozent einer Altersgruppe als hochbegabt. In Deutschland trifft dies auf circa 250.000 Schülerinnen und Schüler zu, in fast jeder Klasse sitzt also ein hochbegabtes Kind.

Wie kann man Hochbegabung erkennen?

Obwohl Hochbegabung am ehesten am kognitiven Potenzial festgemacht wird, dürfen Lehrkräfte in der Regel selbst keine Intelligenztests durchführen. Lehrkräfte sollten daher auf Anzeichen wie außergewöhnliches Fachwissen, tiefe Verständnisse, kreative Problemlösung, schnelle Auffassungsgabe und kritisches Denken achten. Je höher die Intelligenz, desto höher sind in der Regel auch die Schulleistungen. Es gibt jedoch auch Ausnahmen wie die Gruppe der sogenannten „Underachiever“, deren Leistungen deutlich hinter dem zurückbleiben, was man aufgrund der hohen Intelligenz erwarten würde.

Durch die Schaffung von herausfordernden Lernsituationen können sich Lehrkräfte ein Bild über das Potenzial ihrer Schülerinnen und Schüler machen. Initiativen wie LUPE („Leistung unterstützen, Potenziale entdecken“) bieten Lehrkräften hierfür entsprechende Materialien an. Auch Lernstandserfassungen und standardisierte Tests sind nützliche Werkzeuge, die zur Potenzialeinschätzung beitragen können. Aktuell untersuchen wir die Qualität und Handhabbarkeit eines standardisierten Verfahrens (Screening-Verfahren), das bereits zu Beginn der ersten Klasse mit jedem einzelnen Kind durchgeführt werden könnte, um das kognitive Potenzial der Schülerinnen und Schüler einschätzen zu können.

Wie kann man Hochbegabung gezielt fördern?

Häufig werden zwei Hauptansätze zur Förderung von Hochbegabung unterschieden: Akzeleration und Enrichment. Bei der Akzeleration („Beschleunigung“) geht es darum, hochbegabten Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, schneller durch das Schulsystem oder einzelne Fächer zu gehen, um ihrem Lernbedarf gerecht zu werden. Beim Enrichment („Anreicherung“) erhalten hochbegabte Schülerinnen und Schüler neben dem regulären Unterricht zusätzliche, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene, Lernangebote.

Frühzeitige, herausfordernde Lerngelegenheiten sind besonders wichtig, da sie eine solide Grundlage für die Entwicklung besonderer Begabungen bilden können. Weil dies im regulären Grundschulalltag allerdings eine Herausforderung darstellen kann, bieten Enrichtmentangebote wie die Hector Kinderakademien eine Förderung bereits ab der 1. Klasse an.

Wie wird am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung zu Hochbegabung geforscht?

Am Hector-Institut untersuchen wir zum Beispiel, welche Eigenschaften für Lehrkräfte relevant sind, wenn sie Schülerinnen und Schüler für ein Begabtenförderprogramm vorschlagen. Lehrkräfte spielen beim Erkennen besonderer Begabung eine sehr große Rolle. Eine zentrale Frage, die hier beantwortet werden soll, ist: Welchen Einfluss hat die persönliche Haltung zum Thema Hochbegabung bei der Auswahl der Kinder für ein Begabtenförderprogramm?

Daran angelehnt erforschen wir gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, wie effektiv der Einsatz einer objektiven Lernausgangslagensoftware im regulären Schulunterricht ist. Eine der Forschungsfrage, die wir uns dabei stellen, lautet: Können Lehrkräfte die Daten nutzen, um spezielle Förderbedarfe zu identifizieren?

Für Kinder, die bereits als besonders begabt erkannt wurden, haben wir in Tübingen in den letzten zehn Jahren erfolgreich ein vielfältiges Enrichment-Angebot entwickelt und evaluiert. Im Promotionskolleg Hector Core Courses werden aktuell weitere Kurse unter anderem zu den Themen Sustainability, Data Literacy, Spatial Thinking und Citizen Science entwickelt. Diese Kurse sind speziell auf die Bedürfnisse von besonders begabten und hochbegabten Schülerinnen und Schülern angepasst und werden aufgrund von Studienergebnissen beständig weiterentwickelt. Auch eine Ausweitung dieser Angebote auf die Sekundarstufe ist bereits angedacht.

Warum ist es wichtig, Begabungen zu fördern?

Es gibt die schöne Formulierung des deutschen Psychologen William Stern, dass Begabungsförderung keine „Luxussache“ ist. Hochbegabte Kinder haben das gleiche Recht auf eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Förderung wie andere Kinder auch. Wenn ihre Begabungen übersehen oder nicht gefördert werden, können Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten bekommen, die sich in Verhaltensauffälligkeiten, Motivationsproblemen und Leistungsverweigerung äußern. Und auch wenn nicht jedes hochbegabte Kind später Neues entdecken oder erfinden wird, profitieren wir als Gesellschaft davon, wenn junge Leute mit innovativen Ideen und Erfindungsreichtum die Zukunft gestalten können.

Das Interview führte Maximilian von Platen

Tag der Hochbegabung:

Talent und Begabung fördern! Aber wie? Um diese Frage zu beantworten, findet am 15. November 2023 von 10.00-16.00 Uhr im Hospitalhof in Stuttgart der Tag der Hochbegabung statt. Erfahren Sie, welche aktuelle Erkenntnisse der Wissenschaft zur Begabtenförderung vorliegen. Wie eine wirksame Förderung von begabten Kindern und Jugendlichen aussehen kann. Und welche Angebote Hochbegabte dabei unterstützen, ihr volles Potenzial zu entfalten.

Für die Präsenzveranstaltung im Hospitalhof Stuttgart können Sie sich unter https://uni-tuebingen.de/de/245278 anmelden. Ausgewählte Programmpunkte werden zudem als Livestream übertragen.