Im Sonderforschungsbereich (SFB) „Andere Ästhetik“ untersuchen Forschende aus 20 Fachdisziplinen seit 2019 Texte, Bilder oder musikalische Werke von der Antike bis zur Frühen Neuzeit. Sie fragen: Warum bewegt uns Kunst? Was verstehen wir unter Ästhetik? Was leistet Kunst in der und für unsere Gesellschaft?
Im kommenden Sommersemester lehrt und forscht jetzt der erste Solist des Stuttgarter Balletts, Friedemann Vogel, als kooptiertes Mitglied am Sonderforschungsbereich. Er gilt als einer der renommiertesten Balletttänzer der Welt. Professorin Annette Gerok-Reiter, Sprecherin des SFB, berichtet im Interview über das ungewöhnliche Projekt und die Verbindung von Tanz und Wissenschaft.
Frau Gerok-Reiter, wie kann man sich die Kooperation mit Friedemann Vogel vorstellen?
Geplant sind zwei gemeinsame Projekte: Zum einen arbeiten wir an einer Publikation, in deren Zentrum die Performance von Friedemann Vogel steht, die er im vergangenen Jahr in Kooperation mit uns konzipiert und hier in der Tübinger Anatomie aufgeführt hat. Das Buch wird hochwertige Bildaufnahmen, Interviews mit Friedemann Vogel und dem Choreographen Thomas Lempertz und Beiträge aus Theater- und Tanzwissenschaft sowie der Medienwissenschaft umfassen, die die Performance reflektieren.
Zum anderen werden wir gemeinsam einen Workshop veranstalten zu Heinrich von Kleists „Marionettentheater”. Das ist ein prominenter Text, mit dem sich Friedemann Vogel bereits im Rahmen der ebenfalls von ihm und Thomas Lempertz 2024 kreierten Performance „Seele am Faden“ intensiv auseinandergesetzt hat. Wir wollen die beiden Perspektiven auf den Text – die tänzerisch-praktische und die wissenschaftlich-analytische – zusammenbringen und sie miteinander konfrontieren.
Außerdem wird uns Friedemann Vogel selbst „in Bewegung bringen“: Geplant ist ein Bewegungsworkshop für die Mitglieder des SFB, der weniger theoretisch, sondern eher experimentell angelegt sein wird und die Perspektiven, hier praktisch – dort analytisch, einmal umkehren soll.
Wie kam diese Verbindung von Tanz und Wissenschaft zustande?
Wir wollten die Bewilligung unserer zweiten Förderphase mit einer Festveranstaltung feiern und dazu aktuelle Kunst einladen. Meine Kollegin Anna Pawlak hatte die Idee, bei Friedemann Vogel anzufragen, und hat den Kontakt hergestellt. Wir haben uns daraufhin zu einem Gespräch getroffen. Schnell wurde deutlich, dass unser gemeinsamer Schnittpunkt in der Leidenschaft für die Kunst und der Frage liegt, was Kunst in unserer Gesellschaft leisten kann. Das war unsere Basis. Von hier aus konnten wir beide Seiten – die künstlerische wie die wissenschaftliche – dann ganz unkompliziert zusammenbringen. Gemeinsam mit Anna Pawlak haben Friedemann Vogel und Thomas Lempertz die Performance mit dem Titel „Écorché! Anatomie des Tanzes“ entwickelt. Als Écorchés werden enthäutete Mensch- und Tierkörper bezeichnet, die sowohl in der Medizin wie auch in der Kunst insbesondere in der Frühen Neuzeit Gegenstand anatomischer Studien waren. In der Performance setzte sich Friedemann Vogel mit dem Konzept des Écorchés auseinander, indem er anatomische Details und einzelne Posen vormoderner Écorchés tänzerisch mit dem gewaltsamen Vorgang der Enthäutung verband und dabei insbesondere die Schönheit von Formvollendung und Transgression herausarbeitete. Damit brachte er das Transformationspotential des Tanzes zur Darstellung: als Paradigma des Kunstschaffens selbst. Die Performance wurde in der Alten Anatomie aufgeführt und gefilmt. Diese produktive Zusammenarbeit wollten wir intensivieren und weiter ausgestalten. Der nächste Schritt war dann, dass Friedemann Vogel assoziiertes Mitglied unseres Sonderforschungsbereichs wurde. Aber weitaus wichtiger ist, dass wir ihn gewinnen konnten, über ein Mercator-Fellowship die Arbeit mit uns in neue Projekte zu überführen.
Was verbindet Tanz und Ästhetikforschung?
Wir beschäftigen uns mit ästhetischen Fragen vor allem in Bezug auf vormoderne Künste. Gerade für diese ist der performative Aspekt entscheidend. Als Beispiel lässt sich die mittelalterliche Lyrik nennen, deren Existenz auf dem Pergament nur einen kleinen Teil ihres Wirkungsradius ausmacht. Der wichtigere Teil im damaligen zeitgenössischen Kontext war immer die Aufführung – etwa im Rahmen eines Hoffestes –, war das Hören, war der direkte Kontakt mit dem Publikum, mit den Zuhörerinnen und Zuhörern, die direkte Einbindung in die Lebenswelt. Auch in der gegenwärtigen Kunstpraxis hat Performanz große Bedeutung. Das gilt insbesondere für den Tanz als einer Kunst, deren eigentliche Existenz immer in der Performance selbst liegt. Deshalb haben wir uns so gerne mit Friedemann Vogel zusammengeschlossen.
Was ist das Ziel der Zusammenarbeit?
Uns ist wichtig, dass Wissenschaft nicht im Elfenbeinturm bleibt. In der Auseinandersetzung mit Friedemann Vogel wollen wir unsere Thesen überprüfen, und zwar gerade anhand der zeitgenössischen Kunstpraxis. Denn unsere Forschung muss sich letztlich immer an der Gegenwart und ihren aktuellen Herausforderungen bewähren. Im Zentrum steht für uns hier die Frage, wie kann die Reflexion über Kunst, über das Ästhetische die Kunstpraxis beeinflussen – und umgekehrt: Wie kann die Kunstpraxis unsere wissenschaftliche Reflexion korrigieren, präzisieren, weiterführen?
Was hat sich neben der Zusammenarbeit mit Friedemann Vogel und dem verstärkten Fokus auf performativen Aspekten in der zweiten Förderphase des SFB noch verändert?
Zum einen wollen wir noch stärker als bisher sogenannte Gebrauchskunst in den Blick nehmen. In der Vormoderne ist eine Zäsur zwischen Kunst und Lebenswelt nicht so stark ausgeprägt wie dann folgend ab dem 18. und 19. Jahrhundert. Kunst fand in vormodernen Zusammenhängen nicht in Sonderräumen, etwa in Museen, statt, sondern war in die Lebenswelten eingebettet. Damit lässt sich wiederum eine Brücke von der Vormoderne in die Moderne schlagen: Wir sind heute umgeben von Erfahrungswelten – Stadtplanung, Wohnungsgestaltung, persönliches Outfit –, die durchdrungen sind von ästhetischen Aspekten. Auch die Kunst selbst arbeitet verstärkt daran, die Grenzen zwischen sich und der Lebenswelt wieder durchlässig zu machen. Zum anderen wollen wir mehr als bisher in einen Dialog mit Kunstformen und Artefakten aus nicht-europäischen Kulturen treten. Um damit zu erproben, ob sich ein solcher Dialog von unseren Ansätzen aus offener als bisher, d.h. jenseits der vielfach üblichen Dominanzen, führen lässt.
Plant der Sonderforschungsbereich Andere Ästhetik weitere Projekte mit anderen Künstlerinnen und Künstlern?
Wir stehen im regen Austausch mit verschiedenen Kunstschaffenden und suchen immer wieder die Auseinandersetzung mit der Kunstszene: Bereits in der ersten Förderphase haben wir unsere Forschungsfragen auch auf künstlerischer Ebene vermittelt und verhandelt. In Kooperation mit Webdesignern ist das Webportal Andere Ästhetik entstanden. In der zweiten Förderphase startete unser Instagram-Projekt, welches die Potentiale ästhetischer Wissenschaftskommunikation in den sozialen Medien erforscht. Gemeinsam mit Grafikdesignern erarbeiten wir dazu einen ästhetischen Zugang zu unseren Themen. Im Rahmen der Science and Innovation Days im vergangenen November hat der SFB das Thema „Besser streiten“ gemeinsam mit Stuttgarter Performance-Künstlerinnen und -Künstlern inszeniert. Und Ende Januar fand im Rahmen unserer Ringvorlesung ein Gespräch mit Florian Mittelhammer, dem Leiter des Hölderlinturms, und Dr. Nicole Fritz, der Leiterin der Tübinger Kunsthalle, statt. Zum einen treten wird in diesen Kooperationen mit Künstlerinnen und Künstlern sowie Kuratorinnen und Kuratoren ins Gespräch, zum anderen suchen wir über ästhetische Repräsentationen unserer Arbeit Wege der Wissenschaftskommunikation mit der Öffentlichkeit. Wir sind von dieser produktiven Auseinandersetzung überzeugt und werden diesen Weg auch in Zukunft weiterverfolgen. Zunächst aber und vor allem: mit Friedemann Vogel.
Das Interview führte Franziska Hammer
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