Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2025: Leute

Mediävist mit Passion für Minnegesang und das Mittelhochdeutsche

Zum Tode von Dr. Derk Ohlenroth ein Nachruf von Annette Gerok-Reiter, Klaus Ridder, Patrizia und Ulrich Barton, Rebekka Nöcker und Slavica Stevanović

Derk Ohlenroth hat in 31 Jahren am Deutschen Seminar der Universität Tübingen Generationen von Studierenden philologische und historische Grundlagen der deutschen Sprache und Literatur des Mittelalters vermittelt und seine gefragte Lehre auf Bitte des Seminars auch noch Jahre nach seiner Pensionierung (2002) fortgesetzt. Am 14. Oktober 2024 ist er im Alter von 87 Jahren verstorben.

Derk Ohlenroth wurde am 20.07.1937 in Hamburg-Wandsbek geboren und ist gemeinsam mit zwei Geschwistern in Adendorf (Landkreis Lüneburg) im Ziegeleibetrieb der Großeltern – der Vater war im Krieg gefallen, die Mutter früh verstorben – aufgewachsen. Die Kindheit war geprägt von Entbehrungen der Kriegszeit, einer Erfahrung, die bis ins hohe Alter nicht verloren ging: Kalten Kaffee vermochte er nicht fortzuschütten, eine gesprungene Tasse nicht zu ersetzen. Schon sehr früh entwickelte er eine Passion für Ornithologie und Fotografie, die ihn immer wieder in die Lüneburger Heide zurückkehren, und eine vielleicht noch größere Leidenschaft für die antike griechische Kultur, die ihn Jahr um Jahr nach Griechenland aufbrechen ließ.

Nach Abitur (Lüneburg) und Wehrdienst folgte ein Studium der Gräzistik und Germanistik in Tübingen, schließlich 1971 die Promotion in Konstanz mit einer Arbeit zu Sprache und Sprechsituation vor allem des frühen deutschen Minnesangs. Den jungen Germanistik-Studenten faszinierten die Vorlesungen des Mediävisten Wolfgang Mohr, dessen etymologisch basierter Sprach- und Textzugang Grundlagen für Ohlenroths Werkverständnis legte. Aber auch das Griechisch-Studium – vom Großvater bekam er eine Schreibmaschine mit Sonderzeichen – führte zu einer lebenslangen Auseinandersetzung mit griechischer Sprache, Schrift und Literatur.

Im mediävistisch-germanistischen Feld galten Ohlenroths Forschungsinteressen den großen Werken der althochdeutschen Zeit (Hildebrandslied, Muspilli), vor allem aber der ‚klassischen‘ mittelhochdeutschen Literatur, der Lied- und Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide, dem Nibelungenlied und dem höfischen Roman (Parzival, Reinfried von Braunschweig). Neben philologisch-sprachhistorischen Problemstellungen interessierten ihn in besonderer Weise Aufführungscharakter und Aufführungswirklichkeit der mittelalterlichen Werke, also eine dezidiert performative Perspektive – lange vor dem ‚performative turn‘ der aktuelleren Forschung.

Der Entzifferung der Inschriften auf dem Diskos von Phaistos (einer Tonscheibe, heute im Archäologischen Museum in Iraklio) widmete Ohlenroth 1996 eine Monographie, die es sogar in den ‚Spiegel‘ (1997/2) schaffte. Als Lebenswerk aber betrachtete er seine ›Pragmatische Chronologie‹, eine Datierung kulturhistorischer Objekte (Texte wie materiale Erzeugnisse) in relativ-chronologischer Abfolge von den ‚Anfängen‘ bis ins Spätmittelalter; sie ist 2024 in revidierter Auflage als Open Access-Publikation erschienen. Die Arbeit daran hat 1975 begonnen, umfasste schließlich über 27000 datierte Objekte und blieb nur durch den Einsatz von TUSTEP (Tübinger System von Textverarbeitungsprogrammen) handhabbar.

Seit 2005, nahezu 20 Jahre lang, war Derk Ohlenroth kontinuierlich in Editionsprojekte der mediävistischen Abteilung eingebunden. Sein von eigener Begeisterung für Literatur und Texte und vom Vergnügen an vormoderner Sprachästhetik geleitetes Engagement ging weit über die Funktion eines philologischen Beraters hinaus. Von der Transkriptionskorrektur über die Durchsicht zahlloser Editionstexte und Stellenkommentare, in welche sein enormes grammatisches und etymologisches Wissen einfloss, bis hin zur grenzenlosen Bereitschaft, schwierige Einzelstellen, auch mehrfach, mit logisch-philologischem Scharfsinn und Textgenauigkeit zu diskutieren, verdanken ihm die drei Editionen der Deutschen Versnovellistik, der Rosenplütschen Fastnachtspiele und der Frühen Tiroler Fastnachtspiele sowie das aktuell laufende Editionsprojekt der Religiösen Kurzerzählungen Wesentliches. Derk Ohlenroth vermochte es wie kaum ein Zweiter, seine stets konstruktive Kritik mit weiterführenden Vorschlägen zu verbinden. Dabei gab er seinem Bestreben, immer wieder die scheinbaren Gewissheiten des Faches herauszufordern, in der Freude an gewagten Interpretationen Ausdruck. Besonders junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler profitierten von seinem Gespür für Textsinn und ‑struktur sowie von der Selbstlosigkeit, mit der er seine fundamentalen Kenntnisse weitergab und dazu quasi als Mittelhochdeutsch-Muttersprachler Texte aus dem Stegreif rezitierte. In vielem war er ein wissenschaftlicher Solitär und doch bis zuletzt in die ihn interessierenden Projekte der mediävistischen Abteilung integriert – streitbar und eigensinnig, humorvoll und freundlich.

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