Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2025: Leute

Wissenschaftlichkeit und Patientenorientierung

Zum Tode von Professor Dr. Gerhard Buchkremer ein Nachruf von Anil Batra und Andreas J, Fallgatter

Am 1. April 1990 übernahm Gerhard Buchkremer, ehemals Oberarzt in Münster, in Nachfolge von Professor Dr. Hans Heimann den Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen. Unter seiner Leitung fielen 1995 die Mauern der Tübinger Psychiatrie – bis dahin waren die Gärten der alten „Nervenklinik“, wie die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie damals noch genannt wurde, von hohem Mauerwerk umgeben. Undenkbar schien es vielen Mitarbeitenden, diesen „Schutzraum“ für Patientinnen und Patienten aufzugeben. Doch Gerhard Buchkremer setzte sich durch – hier und in vielen weiteren Themen ganz im Sinne der traditionellen „mehrdimensionalen Tübinger Psychiatrie“, die ein naturwissenschaftliches Verständnis von psychischen Erkrankungen mit psychotherapeutischem und sozialpsychiatrischem Vorgehen verband. 

Gerhard Buchkremer hatte Humanmedizin in Berlin und Münster studiert. Nach der Approbation 1974 begann er seine klinische und wissenschaftliche Laufbahn an der Klinik für Psychiatrie und Neurologie der Universität Münster unter Professor Rainer Tölle (ehemals Oberarzt an der Tübinger Klinik). Bereits 1979 wurde er – nach erfolgreicher Facharztprüfung - als Neurologe und Psychiater zum Oberarzt ernannt. Schon in seinem Dissertationsthema hatte er den Schwerpunkt seiner psychotherapeutischen Ausrichtung, die Verhaltenstherapie, mit dem Interesse für chronisch psychisch kranke Patienten verbunden. Psychotherapie, Angehörigenarbeit und eine sozialpsychiatrische Versorgung waren die von ihm vorrangig gewählten Mittel zur Verbesserung der Krankheitsverläufe. In seinem Forschungsschwerpunkt habilitierte er sich im Jahre 1984 über Möglichkeiten zur „Rückfallverhütung bei schizophrenen Patienten“.

Viele Themen begleiteten und kennzeichneten sein Wirken während seiner Zeit an der Tübinger Klinik: der Einsatz der kognitiven Verhaltenstherapie bei schizophrenen Psychosen, das Interesse für Abhängigkeitserkrankungen und speziell die Tabakentwöhnung, die Weiterentwicklung einer störungsspezifischen Psychotherapie, die psychotherapeutische Fundierung psychiatrischen Denkens und Handelns in der ärztlichen Weiterbildung sowie die Unterstützung klinischer Forschung nicht nur in allen Bereichen der Psychotherapie, sondern auch in der Suchttherapie, klinischen Psychoimmunologie und im Einsatz interventioneller Verfahren (Elektrokonvulsionstherapie und Transkranielle Magnetstimulation). Durch die Etablierung eines Geriatrischen Zentrums mit einer gerontopsychiatrischen Schwerpunktstation und einer gerontopsychiatrischen Tagesklinik (damals auf dem Österberg, heute im Altbau der Klinik) trug er auch entscheidend zur Verbesserung der Diagnostik und Behandlung von älteren Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen bei.  Die Psychiatrie sollte facettenreich, wissenschaftlich fundiert, werteorientiert und ganzheitlich sein. Ohne persönliche Eitelkeit unterstützte er die jungen Ärztinnen und Ärzte, Forscherinnen und Forscher, ließ ihnen Raum für die eigene Entwicklung und motivierte sie, Klinik und Wissenschaft zu verbinden. Gerhard Buchkremer engagierte sich in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) e.V., im Wissenschaftlichen Aktionskreis Tabakentwöhnung (WAT) e.V., war Autor zahlreicher Publikationen und Herausgeber mehrerer Fachbücher in den Themengebieten Abhängigkeitserkrankungen, Psychosen, Angehörigenarbeit und Depressionsbehandlung. 

Am Ende seiner Laufbahn räumte er in seiner Abschiedsvorlesung ein: „Auch wenn heute Lippenbekenntnisse eine mehrdimensionale oder auch multifaktorielle Ätiologie psychischer Erkrankungen betonen, so ist die mehrdimensionale Therapie, die nicht nur fast ausschließlich pharmakologische, sondern auch psycho- und soziotherapeutische Therapie miteinschließt, noch nicht Allgemeingut“. Vielmehr - so wies Buchkremer auf ein Dilemma unserer heutigen Zeit hin - sei die „neue ökonomische Dimension der mehrdimensionalen Therapie“ zu einem Problem geworden: gemeint war die Reformierung des Entgeltssystems, die eine Umsetzung der Errungenschaften der Psychiatrie Enquete 1975 erschwerte. Die zunehmende Erlös-Kosten-Schere ging mit personellen Kürzungen und daraus resultierenden negativen Konsequenzen für die Behandlung von Patientinnen und Patienten einher. 

Die Behandlung psychisch kranker Menschen war sein Anliegen: „Es darf nicht vergessen werden, dass in der Psychotherapie nicht psychische Krankheiten behandelt werden, sondern psychisch erkrankte Menschen“. Er plädierte trotz der störungsspezifischen Ausrichtung der Klinik immer für die Berücksichtigung der Individualität und persönlichen Schicksale. Seine Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, sein Interesse am Wohlergehen seiner Patientinnen und Patienten haben viele von ihnen all die Jahre nach seiner Emeritierung nicht vergessen.

Wissenschaftliche Fundierung, Mehrdimensionalität, Patientenorientierung und eine Gleichbehandlung auch schwer erkrankter Menschen – das war sein Appell und Vermächtnis an die nächste Generation.

Immer wieder forderte er die Umsetzung der Pläne, der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie einen modernen Neubau zu geben – den Spatenstich dazu konnte er noch in seiner Amtszeit im Jahr 2008 vornehmen. Anlässlich seiner Emeritierung im September 2009 überreichten ihm ehemalige Mitarbeiter einen Bohrkern aus den 1995 niedergerissenen Mauern des Klinikgartens – als Symbol für den Wandel, den er initiiert hatte.

Am 26. August 2025 verstarb Gerhard Buchkremer nach kurzer schwerer Krankheit in Alter von 82 Jahren – zu früh, denn er stand noch mitten im Leben. Seine Kolleginnen und Kollegen trauern um eine eindrucksvolle Persönlichkeit, einen wohlwollenden Vorgesetzten, einen engagierten und bekennenden Psychotherapeuten.