Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2025: Leute

Niveau und Pflichtbewusstsein

Zum Tode von Professor Dr. Klaus-Detlef Müller ein Nachruf von Georg Braungart

Als Klaus-Detlef Müller 1987 am Deutschen Seminar der Universität Tübingen die Nachfolge des Großmeisters Richard Brinkmann antrat, hatte er bereits ein klar ausgeprägtes Profil im Fach und war eine weithin angesehene und geschätzte Forscherpersönlichkeit. Es war ein würdiger Nachfolger. Seine Dissertation über Brechts Verarbeitung von Geschichte in seinem Gesamtwerk, betreut von Klaus Ziegler und 1966 angenommen (Müller war da gerade 28 Jahre alt), blieb grundlegend auch für seine weiteren Forschungen. Und sie ist bis heute ein wichtiger Bezugspunkt der Brecht-Forschung insgesamt geblieben. Müller führte die Beschäftigung mit Brecht auf verschiedenen Ebenen fort. Durch seine tragende Rolle bei der Erarbeitung der großen kommentierten Brecht-Ausgabe im Suhrkamp-Verlag schuf Müller zusammen mit seinen Mitherausgebern die Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit diesem Klassiker des 20. Jahrhunderts. Die Neue Zürcher Zeitung bezeichnetet diese Ausgabe als »Eine Ausgabe, die zu den großen editorischen Unternehmungen unseres Jahrhunderts gerechnet werden darf.«

Es ist charakteristisch für das Ethos des Hochschullehrers Müller, dass er sich nicht nur um innovative Forschung und mühe volle editorische Grundlagenarbeit kümmerte, sondern auch mit einem feinen Gespür für die Bedürfnisse der Studierenden dann auch die Früchte der Forschungsarbeit in die Breite der akademische Lehre trug. Sein Brecht-Arbeitsbuch (Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung) von 1985 machte seinen Namen weit über die Kreise der Brecht-Spezialisten hinaus bekannt. Es setzte neue Standards für die in den letzten drei Jahrzehnten aufblühende Gattung der Arbeitsbücher und Einführungswerke und verband Klarheit und Verständlichkeit mit Niveau. 

Überhaupt war das für seine Lehrtätigkeit dann auch in Tübingen charakteristisch: didaktische Sorgfalt und gute Nachvollziehbarkeit der Einsichten mit akademischem Anspruch zu verbinden. Müllers Seminare und Vorlesungen erstreckten sich über die gesamte Breite der deutschen Literatur seit dem 17. Jahrhundert und waren von einer großen Treue zur Sache der Literatur geprägt. In seiner Trauerrede am 24. Oktober auf dem Tübinger Bergfriedhof beschrieb Werner Frick, Professor emeritus in Freiburg und einer seiner ersten und bedeutendsten Schüler, den Habitus des akademischen Lehrers Müller so: „Er lehrte zuvörderst durch sein eigenes Beispiel, durch sein fachliches Ethos und durch seine sorgfältige und unbestechliche Art, Literatur zu lesen und Literaturwissenschaft als Beruf zu betreiben: gewissenhaft und präzise, mit philologischer Akribie und sozialgeschichtlicher Fundierung, tiefschürfend und aufmerksam auf jedes textliche Detail.“ 

Man zögert angesichts der Vielfalt in Klaus-Detlef Müllers Forschungen, besondere Akzente zu setzen. Gleichwohl: Ein zweiter großer Schwerpunkt war mit der 1976 erschienen Habilitationsschrift über die Autobiographie als Prototyp des Romans im 18. Jahrhundert gefunden (Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit). Sein Ansatz war methodisch wegweisend, denn Müller gewann entscheidende Einsichten in die besondere Struktur literarischer Autobiographien aus der genetischen Analyse zentraler Texte dieser Gattung im Kontext der Zweckform der Gelehrtenautobiographie und anderer Formen faktualer Lebensbeschreibung. Das Buch blieb ein Standardwerk der Autobiographieforschung für viele Jahre. Und aus dem Zusammenhang dieser Studien ging eine nach der Brecht-Ausgabe wiederum wegweisende Edition hervor: seine Ausgabe von Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit, 1986 im Rahmen der großen Goethe-Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlags erschienen. Gerade wegen des höchst gelehrten Kommentars ist für die Forschung und die universitäre Lehre diese Ausgabe bis in die Gegenwart unverzichtbar. 

Nach der Habilitation in Tübingen im Jahre 1975 hatte Klaus-Detlef Müller einen Ruf auf seine erste Professur erhalten. Seine Laufbahn führte ihn, den in Halle Geborenen, weit in den hohen Norden, an die Christian-Albrechts-Universität nach Kiel, wo er sogleich begabte Studierende und aufstrebende Nachwuchsforscher an sich zog und das Fach stark prägte. Dass er 1987 dem ehrenvollen Ruf auf den Tübinger Lehrstuhl, einem der zentralen und herausgehobenen Lehrstühle der Germanistik in Deutschland, folgte, war ein Glücksfall für diese Universität. 

Besonders prägnant und für seine Universität ehrenvoll waren die institutionellen Aktivitäten Klaus-Detlef Müllers – mit Ausstrahlung weit über Tübingen hinaus. Er gab eine renommierte und traditionsreiche Buchreihe heraus (Hermaea) und war lange Jahre Mitglied der Germanistischen Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft, nachdem er bereits zuvor gewählter Fachgutachter der DFG gewesen war. Dort wirkte er auch als Mitglied der Auswahlkommission für die begehrten Heisenberg-Stipendien. Hier in Tübingen beteiligte sich Müller an der akademischen Selbstverwaltung, unter anderem als Dekan seiner Fakultät, als Mitglied des Verwaltungsrats und schließlich, acht Jahre lang, als Mitglied der Universitäts-Strukturkommission.

Ja, Klaus-Detlef Müller war ein ‚mächtiger Mann‘ in der deutschen Germanistik und an seiner Universität. Doch sein hohes Ethos, fachlich wie menschlich, und sein großes Verantwortungsbewusstsein ließen nie einen Zweifel daran aufkommen, dass für ihn allein die wissenschaftliche Qualität und die Sorgfalt der philologisch-historischen Arbeit zählten – in der Hochschullehre, in der Forschungsarbeit und im institutionellen Wirken. Nicht zuletzt die unzähligen, legendär umfangreichen Gutachten, die er in den Jahren seiner Professorentätigkeit verfasste, legen davon Zeugnis ab. 

Nun ist Klaus-Detlef Müller am 14. September 2025 im Alter von 87 Jahren in Tübingen verstorben. Mit ihm geht eine große und prägende Gestalt der Germanistik. Das Deutsche Seminar der Universität Tübingen gedenkt seiner in großer Dankbarkeit.