Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2025: Studium und Lehre

“Here in Hull House we wear slippers” – Soziologisches Theaterprojekt mit Lehrpreis der Universität ausgezeichnet

Theaterstück thematisiert Rassismus und Sexismus in den Anfängen der Sozialforschung.

Das Hull House war Ende des 19. Jahrhunderts Treffpunkt und kulturelles Zentrum für weniger bemittelte Menschen in einer überwiegend migrantischen Nachbarschaft in Chicago. Die Einrichtung war wegweisend für die Ausbreitung der sogenannten Settlement-Bewegung in den USA. Die Settlement-Bewegung hat ihren Ursprung in Großbritannien und legte die Grundlage für die heutige Gemeinwesensarbeit. 

Das Hull House steht auch im Mittelpunkt des soziologischen Theaterprojekts „Drawing Lines – Vom Kampf um gleiche Rechte“, das am Dies Universitatis mit dem Lehrpreis der Universität Tübingen 2025 ausgezeichnet wurde. Entwickelt wurde das Theaterstück von Professorin Dr. Ursula Offenberger gemeinsam mit der Theaterpädagogin Dorothee Engbers und Studierenden.

Anhand von historischen Debatten zwischen der Gründerin des Hull House Jane Addams und führenden Köpfen der Settlement-Bewegung wie Ida Wells-Barnett, William E. B. Du Bois und Florence Kelley thematisiert das Stück Rassismus und Sexismus in den Anfängen der Sozialforschung. Das Stück zeigt, wie Frauen sowie Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner damals bahnbrechende Beiträge zur Entwicklung empirischer Sozialforschung geleistet haben. In der späteren Fachgeschichtsschreibung sind diese Perspektiven jedoch verdrängt, ignoriert und vergessen worden. 

Dr. Franziska Hammer sprach im Rahmen der Proben mit Professorin Dr. Ursula Offenberger, Dorothee Engbers, der Studentin Leonie Holdik, die das Manuskript für das Theaterstück verfasst hat, und weiteren Beteiligten.


Warum ist es gerade heute wichtig, vergessene Figuren wie Jane Addams oder Ida Wells-Barnett in den Fokus zu rücken?

Dorothee Engbers: 
Anhand dieser historischen Figuren zeigen wir die Geburtsstunde der sozialen Arbeit. Wissenschaftliches Arbeiten und politisches Wirken sind damals viel enger miteinander verknüpft als heute – das ist sehr inspirierend. Dabei haben wir feststellt, dass sich viele Themen wiederholen – vielleicht nicht in der konkreten Ausgestaltung, aber als Theorieansätze zur „Colour Line“, also zu Phänomenen von Rassismus und Ausgrenzung in politischen Systemen. Diese Themen brechen nicht ab, sondern sind hochaktuell.

Leonie Holdik: 
Ich finde es wichtig, ein Gleichgewicht zur Bekanntheit und Sichtbarkeit weißer Männer zu schaffen und diese Frauen für das zu würdigen, was sie damals geschaffen haben.

Lilli Kornmann:
Als junge Frau im wissenschaftlichen Umfeld finde ich es spannend, zu den Ursprüngen zurückzugehen: zu diesen Frauen, die den Weg dafür geebnet haben, dass ich heute studieren und promovieren kann. Diese Frauen haben dafür gekämpft und sind unsichtbar geblieben.

Was gab den Anstoß, den Lehrstoff in ein Theaterstück zu verwandeln?

Ursula Offenberger:
Ich habe bereits vor Jahren mit einem anderen Jahrgang von Studierenden zu einem ähnlichen Thema einen Webcomic entwickelt. In Erweiterung von dem Stoff, wie wir ihn damals umgesetzt haben, gab es die Idee, wieder ein kreatives Format zu entwickeln und kunstbasiert mit dem Stoff zu arbeiten. Zwischen Comic und Theater gibt es viele Parallelen: Es ist eine sequenzielle Kunst, man hat Personifizierungen und damit viele Möglichkeiten. Wir haben daraufhin die Debatten im Kontext der schwarzen Settlements in den USA, die wir zeigen wollen, personalisiert. Die Personen, die auftreten, sind Trägerinnen von Debattenpositionen und verkörpern einen Diskurs. Mit der Personifizierung war es möglich, sich in diese Debatten hineinzuversetzen und damit einen kreativen Zugang zum Lehrstoff zu finden.

Leonie Holdik:
Ich finde es besonders, an der Uni mal nicht nur den Kopf einzusetzen, sondern auch den Körper. Das Besondere am Theater, im Gegensatz zum Comic, ist die Einmaligkeit dieser Aufführungssituation: Jede Aufführung zeigt andere Varianten im Spiel, wirft bei den Zuschauenden andere Fragen auf und es entsteht eine je eigene Stimmung in der Interaktion mit dem Publikum.

 

Welche Herausforderungen gab es bei der Entwicklung und Umsetzung des Theaterstücks?

Daria Lenska:
Zunächst haben sich viele Leute im Seminar angemeldet – am Ende blieb eine sehr kleine Gruppe übrig. Aber diese Gruppe war mit vollem Körpereinsatz, Gehirn und Herz dabei, es entstand eine tolle Gruppendynamik.

Lilli Kornmann:
Wir alle hatten davor noch nie Theater gespielt. So sind wir am selben Punkt gestartet und konnten langsam zusammenwachsen. Herausfordernd fand ich, meine Rolle mit Persönlichkeit zu füllen, selbst herauszufinden, wer diese historische Figur war. Die persönliche Interpretation einer historischen Figur ist eine Gratwanderung und es hat eine Weile gebraucht, bis ich sie gefunden habe.

Dorothee Engbers:
Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen Arbeiten und dem, was wir hier mit Theatermethoden gemacht haben: Im Studium lernt man, viele Perspektiven und Meinungen zuzulassen. Im Theater funktioniert das so nicht. Wir müssen uns für eine Interpretation entscheiden, sonst können wir die Rolle nicht mit Leben füllen. Da muss man konfrontativer sein und sagen: Das ist jetzt meine Variante von Ida oder von Jane oder von Florence. Erst auf der Grundlage dieser Klarheit kann in der Aufführungssituation für das Publikum wieder eine Offenheit entstehen. Der offene Prozess, die sogenannte rollende Planung, war eine weitere Herausforderung: Die Finanzierung war anfangs nicht gesichert, das Bühnensetting stand noch nicht fest, der Aufführungsort war unklar – all das musste die Gruppe aushalten.

Welche Rolle spielte die Zusammenarbeit mit externen Expert:innen – in diesem Fall einer Theaterpädagogin – für den Erfolg des Projekts?

Ursula Offenberger: 
Die frühe Einbindung von Dorothee Engbers, unserer Theaterpädagogin, ist für mich definitiv eines der Erfolgskriterien. Das war meine wichtigste Lektion aus dem früheren Comic-Projekt, wo ich ebenfalls mit einer Künstlerin zusammengearbeitet habe. Als Laie kennt man die künstlerischen Methoden nur begrenzt. Expert:innen auf dem jeweiligen künstlerischen Feld können aus dem vollen Repertoire der Möglichkeiten schöpfen. Mit der Unterstützung von Dorothee konnten wir verfremdende Effekte und das Publikum involvierende Elemente in die historische Debatte integrieren – und damit einen künstlerischen Beitrag leisten.

Dorothee Engbers:
Wir haben schon in der ersten Sitzung damit begonnen, theaterpädagogische Methoden einzusetzen – auch, weil man eine Weile braucht, um Hürden abzubauen und in den Prozess gehen zu können.

Daria Lenska:
Wir haben eine Gruppendiskussion mit den historischen Figuren geführt, um uns die theoretischen Texte aus der Rolle zu erschliessen. Das ist ein ganz anderer Zugang zu wissenschaftlichen Texten.

Dorothee Engbers:
Meine Aufgabe war es, mit Theaterspieltechniken wieder eine Lebendigkeit in die Texte zu bringen. Wir wollen die Inhalte vermitteln, und wir wollen, dass die Zuschauenden in die Reflexion gehen. Das erreichen wir nicht, indem wir mit erhobenem Zeigefinger und moralischem Anspruch auftreten, sondern indem die Zuschauenden das Gefühl haben, sie sind so nah dran, dass sie sich diesen Themen nicht verwehren können. Aus diesem Grund ist unser Bühnensetting zentriert, wir spielen aus der Mitte heraus.

Lilli Kornmann:
Neben der konkreten Ausarbeitung der Rollen haben wir im Vorfeld Lockerungsübungen gemacht: den Körper spüren, in den Raum sprechen, mit der Stimme arbeiten. Das hat mir sehr geholfen – nicht nur im Theaterkontext, sondern auch für’s Leben: Präsenz im Raum einzunehmen, wenn man zum Beispiel ein Referat hält.

Wie hat sich Ihre Sicht auf Wissenschaft und wissenschaftliches Arbeiten durch die kreative Theaterarbeit verändert?

Dorothee Engbers: 
Eine große Gemeinsamkeit von wissenschaftlichem Arbeiten und kreativer Theaterarbeit ist die suchende Bewegung, mit der man an die Materie herangeht. Wo die Wissenschaft – aus gutem Grund – einen Diskurs entfaltet, braucht das Theater Mut zur Klarheit: Körperarbeit produziert Erkenntnis – und ich glaube, damit tut sich die Wissenschaft manchmal schwer und die Theaterpädagogik gar nicht.

João-Paulo Peixoto Figueiredo:
In der Arbeit am Stück haben wir uns immer wieder die Frage gestellt, wie sich Menschen in der Interaktion begegnen. Zugleich ist das eine zentrale Frage der Soziologie. Viele soziologische Ansätze haben wir in der theaterpädagogischen Auseinandersetzung leiblich erfahren. Für mich hat sich die Trennung zwischen Theater und Wissenschaft damit aufgelöst. Beides hat sich sinnvoll ergänzt.

Leonie Holdik:
Die Theaterarbeit hat unseren Blick auf den Kontext dieser soziologisch bedeutsamen Persönlichkeiten gelenkt. Dabei wurde für mich klar: Als forschende Person bringt man immer auch etwas Eigenes in seine Forschung ein – eigene Motivationen, Interessen, persönliche Lebensumstände. Und damit wurde das Bewusstsein geweckt, dass Wissenschaft eben nicht nur objektiv sein kann, das macht sie für mich nochmals aus einer anderen Perspektive spannend.

Franziska Hammer