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19.09.2016

Der Geruchssinn geht aufs Ganze

Neurowissenschaftler der Universitäten Tübingen und Harvard zeigen, dass Duftgemische vom Gehirn wahrscheinlich als ganzheitliche Muster erkannt werden

Eine Maus im Riechversuch. Bild: Murthy Lab

Ein Kooperationsprojekt von Neurowissenschaftlern des Werner Reichardt Centrums für Integrative Neurowissenschaften (CIN) der Universität Tübingen und der Harvard University hat sich mit der Frage befasst, wie wir einzelne Düfte erkennen. Wie gut man einen Geruch in einem Gemisch erkennen kann, gibt Aufschluss über die Repräsentation von sinnlich Wahrgenommenem im Gehirn. Die Repräsentation ist die Wiedergabe oder Verschlüsselung sinnlicher Eindrücke in neuronalen Strukturen, also die Art und Weise, wie im Gehirn eine Entsprechung zur Realität besteht.

Wenn jeder der tausenden von Duftstoffen, denen wir im Alltag begegnen, eine direkte Repräsentation im Gehirn hätte, dann könnte man einzelne Gerüche auch in komplizierten, zuvor noch nicht wahrgenommenen Geruchsmixturen erkennen. Tatsächlich aber wird es umso schwieriger, einen Geruchsstoff zu identifizieren, je mehr Gerüche gleichzeitig vorhanden sind – ganz ähnlich, wie es Probleme bereitet, auf einer lauten Party einem Gespräch zu folgen. Der Riechkolben, in dem die Riechwahrnehmung im Gehirn beginnt, kann eine solche Aufgabe nicht perfekt erfüllen. Daraus folgt, dass die zur Verfügung stehenden Rezeptoren zur Geruchserkennung nicht auf einer Eins-zu-eins-Basis verwendet werden. Stattdessen sind die Glomeruli – das sind die Strukturen in der Oberfläche des Riechkolbens, wo die Informationen aus der Nase zuerst ankommen – an der Erkennung einer Vielzahl von Gerüchen beteiligt.

Dass wir trotzdem viele einzelne Duftkomponenten erkennen können, dafür sorgt ein noch unbekannter Mechanismus. Um ihn aufzuklären, haben die Neurowissenschaftler um Professor Matthias Bethge vom Tübinger CIN und Professor Venkatesh Murthy von der Harvard University Daten analysiert, die aus einer Reihe von Verhaltensexperimenten mit Mäusen stammen. In diesen Experimenten sollten die Mäuse jeweils die Existenz eines von zwei Gerüchen in einem Gemisch mit bis zu 14 weiteren Duftstoffen feststellen. Bei theoretisch über 50.000 möglichen Gemischen konnten die Nager nach ca. 1.000 Trainingsdurchläufen in mehr als 90 Prozent der Experimente einen der beiden erlernten Düfte richtig identifizieren. War der erlernte Duft nur mit wenigen anderen Komponenten vermischt und wiederholten sich die Mixturen nicht, dann lag die Quote bei fast 100 Prozent. Erst bei komplexen Geruchsmixturen oder wenn Teile der Zusammensetzung wiederholt und nur leicht variiert wurden, versagten die Mäuse etwas häufiger.

Diese Treffsicherheit in der Erkennung von Geruchskomponenten versuchten die Forscher nun, einfachen lernfähigen Computerprogrammen „beizubringen“, mit denen sie ebenfalls tausende von Experimentreihen durchspielten. Durch die Gegenüberstellung der Leistungen verschiedener Algorithmen mit den Leistungen der Mäuse gelang ihnen der Nachweis, dass ein einfaches lineares Verfahren basierend auf den Glomeruli ähnlich leistungsfähig ist wie das Mäusegehirn. Damit dieser Algorithmus funktioniert, muss er ähnlich wie die Mäuse trainiert werden. Wie anschließend die Aktivitäten der Glomeruli ausgelesen werden, hängt stark von der Art des Trainings ab. Wenn der Algorithmus nur mit einzelnen Gerüchen trainiert wird, macht er deutlich mehr Fehler bei der Geruchserkennung in Mischungen, was an der unspezifischen Kodierung in den Glomeruli liegt.

Würde das Lernen im Gehirn aber nicht auf Glomeruli, sondern vielmehr auf einer Repräsentation der einzelnen Geruchskomponenten im Gehirn beruhen, so sollte die Verallgemeinerung des Lernens von einzelnen Gerüchen auf Mischungen einfach sein. Diese Vorhersage wurde dann auch bei Mäusen getestet. Tatsächlich hatten die Mäuse Schwierigkeiten, einzelne Gerüche unter mehr als vier anderen zu erkennen, so wie es durch das Verhalten des Algorithmus vorhergesagt wurde. Daher ist es wahrscheinlich, dass das Gehirn eine Geruchsmixtur – anders als bisweilen angenommen – wohl nicht in ihre Geruchskomponenten zerlegt. Beim Sehen sind wir es gewohnt, dass wir Objekte auch dann in Bildern mühelos erkennen können, wenn wir das Objekt nur einmal vorher gesehen haben. Bei Geruchsmixturen dagegen müssen wir uns vor allem auf den Gesamteindruck verlassen, während die Zerlegung in Einzelgerüche erst mit viel Erfahrung gelernt werden kann.

Publikation:

Alexander Mathis, Dan Rokni, Vikrant Kapoor, Matthias Bethge, Venkatesh N. Murthy: Reading Out Olfactory Receptors: Feedforward Circuits Detect Odors in Mixtures without Demixing. Neuron 91 2016. 10.7554/eLife.16290.
<link http: dx.doi.org j.neuron.2016.08.007>

dx.doi.org/10.1016/j.neuron.2016.08.007

Read more in the <link https: www.mcb.harvard.edu mcb news news-detail a-solution-to-the-olfactory-cocktail-party-problem-murthy-lab external-link-new-window external link in new>announcement of Harvard University.

Kontakt:

Prof. Dr. Matthias Bethge
Universität Tübingen
Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)
Telefon +49 7071 29-89017
matthias.bethge[at]uni-tuebingen.de

Pressekontakt CIN:

Dr. Paul Töbelmann
Wissenschaftskommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)
Telefon: +49 7071 29-89108
paul.toebelmann[at]cin.uni-tuebingen.de
<link http: www.cin.uni-tuebingen.de>www.cin.uni-tuebingen.de

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