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20.01.2014

Langsamer, aber leistungsfähiger

Tübinger Sprachwissenschaftler simulierten die menschliche Gedächtnisleistung in zunehmendem Alter

Drei Generationen, unterschiedliche Erfahrungsschätze: Gehirne älterer Menschen arbeiten langsamer, weil sie mehr Wissen verarbeiten müssen. Foto: Lyzadanger/creative commons

Was geschieht mit unseren geistigen Fähigkeiten, wenn wir älter werden? Meist wird angenommen, dass die Gehirnfunktionen stetig abnehmen. Der Sprachwissenschaftler Dr. Michael Ramscar von der Universität Tübingen hat diese Annahme gemeinsam mit Kollegen überprüft und kam zu einem anderen Schluss: „Das menschliche Gehirn arbeitet im Alter zwar langsamer, aber nur, weil es im Laufe der Zeit mehr Wissen gespeichert hat.“

Die Tübinger Wissenschaftler erstellten Computermodelle, die menschliches Verhalten in Tests zur kognitiven Fähigkeit vorhersagen und auswerten können. Speisten sie nur wenige Datensätze in den Computer ein, ähnelte seine Leistung der von Jugendlichen. Benutzten sie jedoch sehr große Datensätze, um die Erfahrung eines ganzen Lebens zu simulieren, war die Leistung des Computers der eines Erwachsenen vergleichbar. Der Grund für diesen Unterschied war nicht, dass die Leistungsfähigkeit des Computers nachgelassen hatte. Er wurde langsamer, weil er mehr Informationen verarbeiten musste.

Michael Ramscar veranschaulicht dies an zwei Beispielen: „Stellen Sie sich jemanden vor, der die Geburtstage von zwei Personen kennt und sich perfekt an diese erinnert. Würden Sie wirklich behaupten, dass diese Person ein besseres Gedächtnis hat, als jemand, der die Geburtstage von 200 Leuten kennt und in neun von zehn Fällen Person und Datum richtig zuordnen kann? Oder sie durchsuchen ein Buchregal mit 200 Büchern und eines mit 20 Büchern ‒ bei welchem finden Sie ihre Informationen schneller?“

Ramscar und seine Kollegen trainierten den Computer schließlich mit riesigen linguistischen Datensätzen. Dabei konnten sie zeigen, dass standardisierte Wortschatz-Tests, wie sie in Altersstudien verwendet werden, die Wortschatzgröße von Erwachsenen massiv unterschätzen. Deshalb würden generell auch die Gründe für die längere „Suchdauer“ im Gedächtnis unterschätzt, so die Forscher. Um die Leistung richtig zu bewerten, müssten Wissenschaftler in Betracht ziehen, wie Erfahrungen den Raum des Gedächtnisses vergrößern, der bei einer Abfrage durchsucht werden muss, sagt der Tübinger Psychologe Peter Hendrix.

Die Arbeit von Ramscar und seinen Kollegen erklärt nicht nur, warum das Gehirn eines Erwachsenen als langsamer und vergesslicher erscheinen muss als das eines Jugendlichen. Die Forschergruppe kommt zu dem Schluss, dass die Leistungsveränderungen im Alter sogar demonstrieren, dass Erwachsene ihren Zuwachs an Wissen besser beherrschen. Die Wissenschaftler nutzten dafür den gängigen „paired-associate learning “-Test, mit dem kognitive Fähigkeiten gemessen werden. Die Probanden mussten dabei Wortpaare wie „oben“/„unten“ oder „Krawatte“/“Knallbonbon“ einstudieren.

Zwar konnten Jugendliche sich Wortpaare wie „oben“/„unten“ besser merken als Wortpaare wie „Krawatte“/„Knallbonbon“, weil diese im Sprachgebrauch häufiger gemeinsam auftreten. Aber insgesamt prägten sie sich Wortpaare unabhängig davon ein, ob sie zusammen Sinn ergaben – es machte für sie wenig Unterschied ob „Knallbonbon“ in Zusammenhang mit „Krawatte“ oder mit einem anderen Wort erschien. Die Erwachsenen hingegen merkten sich in dem Test zusammenpassende Wortpaare leichter als unsinnige Zusammenstellungen – sie hatten im Laufe ihres Lebens ein besseres Verständnis dafür entwickelt, wie Wörter im Sprachgebrauch zusammengehören. Professor Harald Baayen, Leiter der Alexander von Humboldt Forschungsgruppe für Quantitative Linguistik an der Universität Tübingen, die an diesem Thema arbeitet, erklärt dies folgendermaßen: „Um eine Sprache richtig zu verwenden, muss man vermeiden, Begriffe zusammenzubringen, die zwar plausibel erscheinen, aber nicht zusammenpassen. Das können Erwachsene aufgrund ihrer Lebenserfahrung besser.“

Die Tübinger Wissenschaftler folgern aus ihren Ergebnissen, dass die Messung der kognitiven Fähigkeiten älterer Menschen anders gestaltet werden muss. Für sinnvolle Tests müsste zunächst geklärt werden, welche und wie viele Informationen unser Gehirn verarbeitet. Die bisher gängigen Tests können dies nach Ansicht der Forscher nicht leisten, sagt Michael Ramscar. „Das Gehirn älterer Menschen wird nicht leistungsschwächer, ganz im Gegenteil, es weiß einfach mehr.“

Literatur:

Michael Ramscar, Peter Hendrix, Cyrus Shaoul, Petar Milin, Harald Baayen. (2014) The Myth of Cognitive Decline: Non-Linear Dynamics of Lifelong Learning. Topics in Cognitive Science, 6, 5-42.

Kontakt:

Dr. Michael Ramscar
Universität Tübingen
Philosophische Fakultät
Seminar für Sprachwissenschaft, Quantitative Linguistik
Tel. +49 7071 29-76893
Mobil: 001 323 420 7191
<link>michael.ramscar[at]uni-tuebingen.de

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