Uni-Tübingen

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06.12.2022

Kurzlebige Eisströme

Radarmessungen des grönländischen Eisschildes zeigen Abschalten und Neuausrichtung von Eisströmen innerhalb von wenigen tausend Jahren

Große Eisströme können ihre Aktivität innerhalb von wenigen tausend Jahren einstellen und den schnellen Eisabtransport auf andere Gebiete des Eisschildes verlagern. Das zeigt die Rekonstruktion zweier Eisströme auf Basis von eisdurchdringenden Radarmessungen im grönländischen Eisschild, die ein Forschungsteam unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts, an dem auch die Universität Tübingen beteiligt ist, jetzt in der Fachzeitschrift Nature Geoscience vorstellt. 

Wie schnell der Meeresspiegel künftig ansteigt, hängt unter anderem stark davon ab, wie dynamisch oder stabil der grönländische Eisschild ist, der seit dem Jahr 1900 durch seinen Masseverlust bereits etwa 40 Millimeter zum Meeresspiegelanstieg beitrug. Neben Schmelze an der Oberfläche und Unterseite verliert er Masse über Eisströme, das sind die Förderbänder für schnellen Eistransport vom Eisschildinneren zu den Rändern. Ehemalige Verläufe der Ströme lassen sich an den mittlerweile gletscherfreien Gebieten am Rand gut rekonstruieren, da die hinterlassenen Landformen hier sichtbare Hinweise liefern.

Über die Aktivität vergangener Eisströme im Inneren des grönländischen Eisschilds ist bisher jedoch wenig bekannt, da diese Umgebung nur schwer zu untersuchen ist. Daher bedarf es modernster Messtechnik wie hochauflösender Radarsysteme (https://www.awi.de/im-fokus/eisschilde/das-neue-awi-eisradar.html), die dem Eis im wahrsten Sinne auf den Grund gehen und mehrere tausend Meter tiefe Strukturen im Inneren des Eisschilds abbilden können. Diese Bilder konnten Forscherinnen und Forscher des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) im Rahmen eines Projektes zur Rekonstruktion vergangener Eisströme in Kooperation mit Professor Paul Bons aus den Geo- und Umweltnaturwissenschaften der Universität Tübingen mit Methoden der Strukturgeologie auswerten.

Einbeziehung in künftige Klimaszenarien

„Mit unseren eisdurchdringenden Radarmessungen können wir zeigen, wie schnell sich das Eistransportsystem des grönländischen Eisschildes neu konfiguriert. Große Eisströme können sich innerhalb von wenigen tausend oder sogar mehreren hundert Jahren ‚abschalten‘ und in anderen Regionen ähnlich schnell neu entstehen. Dass sich Ströme dieser Größenordnung in dieser Geschwindigkeit verändern, war bisher völlig unbekannt“, berichtet AWI-Glaziologe Dr. Steven Franke, der Erstautor der aktuellen Studie. Der Eisabtransport durch Fließen im festen Zustand – nicht durch Abschmelzen – ist eine eisdynamische Komponente, die bei Prognosen über den Beitrag des grönländischen Eisschilds zum Anstieg des Meeresspiegels unter den diversen künftigen Klimaszenarien stärker in Betracht gezogen werden muss.

Die aktuellen Eisschildmodelle können nur Prozesse einbeziehen, die auch gut verstanden sind. Bisher mangelt es jedoch an Beobachtungen zu der Unbeständigkeit von Eisströmen, die daher in den Modellen noch nicht erfasst ist. Die durch das Radar sichtbar gemachte Fließgeschichte des Eises liefert nun Hinweise zur zeitlichen und räumlichen Entwicklung dieser Dynamik.

Mechanismen detailliert verstehen

Die jetzt veröffentlichten Daten stammen von Flugkampagnen mit dem AWI-Forschungsflugzeug Polar 6 sowie der NASA-Operation IceBridge aus dem zentralen nordöstlichen Grönland, wo heutzutage nur sehr niedrige Fließgeschwindigkeiten des Eises zu beobachten sind. Das Forschungsteam entdeckte gleich zwei Paläo-Eisströme, die in der Vergangenheit aktiv waren und aktuell unter mehreren hundert Metern Eis verborgen liegen. Die Analysen zeigen, dass diese Eisströme bis in das Holozän (jünger als 11.700 Jahre) aktiv waren und weit in das zentrale nordostgrönländische Inlandeis hineinreichten.

„Die Radarsignaturen eines der beiden Paläo-Eisströme, mit deren Hilfe wir die vergangene Eisstromaktivität rekonstruieren konnten, ist der des riesigen, heutzutage aktiven North East Greenland Ice Stream (NEGIS) verblüffend ähnlich“, sagt AWI-Glaziologin Dr. Daniela Jansen, die Leiterin des Projektes zu vergangenen Eisströmen, aus dem die Publikation hervorgegangen ist. Diese Entdeckung ließe möglicherweise Rückschlüsse auf das künftige Verhalten des NEGIS zu, über dessen Entstehung und Stabilität es große Debatten gibt. Die jetzt publizierten konkreten Beobachtungen ermöglichen es den Forscherinnen und Forschern, die Mechanismen detaillierter zu verstehen, die Eisströme erzeugen und beeinflussen. So können sie künftig besser in Modellen abgebildet werden, die vorhersagen, wie die Eisschilde der Erde auf die globale Erwärmung reagieren.

Pressemitteilung des Alfred-Wegener-Instituts

Publikation:

Steven Franke, Paul D. Bons, Julien Westhoff, Ilka Weikusat, Tobias Binder, Kyra Streng, Daniel Steinhage, Veit Helm, Olaf Eisen, John D. Paden, Graeme Eagles, Daniela Jansen: Holocene ice-stream shutdown and drainage basin reconfiguration in northeast Greenland. Nature Geoscience (2022). https://doi.org/10.1038/s41561-022-01082-2 

Kontakt:

Prof. Dr. Paul D. Bons
Universität Tübingen
Geo- und Umweltnaturwissenschaften – Strukturgeologie
 +49 7071 29-76469 und 0160-5515482
paul.bonsspam prevention@uni-tuebingen.de

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