Im Alter von 85 Jahren starb am 24. April in Tübingen der Altphilologe und Philosoph Hans Joachim Krämer. Er war seit 1969 zunächst Professor für Klassische Philologie an der Universität Tübingen, später wechselte er Fach und Fakultät und lehrte bis zum Ruhestand 1994 in Tübingen Philosophie, um anschließend für einige Zeit als Gastprofessor nach Wien zu wechseln.
Der Welt ist Hans Joachim Krämer vor allem als Platonforscher bekannt geworden. In seiner 1957 abgeschlossenen Dissertation „Arete bei Platon und Aristoteles“ begründete er die zur damaligen Platonforschung weitgehend im Widerspruch stehende These, Platon habe neben und hinter seinen meist offen endenden Dialogen eine feste Vorstellung von den ersten Prinzipien der Welt vertreten, die er schriftlich nicht für darstellbar hielt und seinen Schülern deswegen nur mündlich vermittelt habe. Über Platon hinaus ließ sich mit diesem Ansatz manche Entwicklung der Philosophie bis in die Spätantike und das Mittelalter hinein kohärenter verstehen. Zusammen mit dem bereits 1987 verstorbenen Gräzisten Konrad Gaiser begründete Krämer damit eine neue Platoninterpretation, die als „Tübinger Platon“ über mehrere Jahrzehnte weltweit, und von Befürwortern wie Gegnern teilweise mit großer Leidenschaft, diskutiert wurde. Auch wenn in der aktuellen Platonforschung diese Kontroversen weitgehend überwunden sind, ist das aktuelle Platonbild doch durch die Tübinger Ansätze in vielfacher Hinsicht, manchmal auch unausgesprochen, mitgeprägt worden. Die Stadt Syrakus (in der Platon vor 2500 Jahren eine Umsetzung seiner politischen Ideen in die Praxis versucht hatte) ernannte Krämer zu ihrem Ehrenbürger.
Krämer begann als Klassischer Philologe, und eine stupende Kenntnis der antiken Quellen und die meisterliche Beherrschung aller philologischen Techniken war für ihn zeitlebens die selbstverständliche Grundlage seiner Arbeit. So stellte er sich auch der Herausgeberbitte, für ein führendes philosophiegeschichtliches Handbuch den Forschungsstand über die Philosophie der Platonschüler aufzuarbeiten und erledigte diese Pflichtaufgabe mit großem Gewinn für die Wissenschaft. Seine Leidenschaft aber galt der Philosophie, nicht nur der Interpretation antiker Philosophen, sondern dem systematischen Denken. In seinen späteren Jahren konzentrierte er sich immer stärker auf die eigene philosophische Arbeit, deren wichtigste Ergebnisse in zwei große Buchveröffentlichungen einflossen, 1995 die „Integrative Ethik“, und 2007 die „Kritik der Hermeneutik“, in der er sich insbesondere mit Hans-Georg Gadamer auseinandersetzte, der sich seinerseits noch im hohen Alter intensiv mit der Tübinger Platoninterpretation befasst hatte. Für beide Werke spielte Krämers gründliche Erfahrung mit der antiken Philosophie eine wichtige Rolle; es war ihm ein wichtiges Anliegen, das, was in der Antike bereits durchgedacht worden war, im modernen Kontext wieder in eine kritische Diskussion einzubringen. Die Ansprüche, die er hierbei hinsichtlich der Quellenkenntnis und hinsichtlich der argumentativen Ehrlichkeit an sich selbst und an andere stellte, waren stets immens; er lebte kompromißlos für den Fortschritt bei der gedanklichen Erschließung der Welt. Gleichzeitig waren seine Ausführungen waren stets luzide. Positionen, die er für richtig hielt, verteidigte er mit größtem Nachdruck, und war doch ebenso ein sehr offener Gesprächspartner in kritischen Auseinandersetzungen und stets bereit, alles in Frage zu stellen. Das philosophische Bonmot amicus Plato, sed magis amica veritas („Plato ist mir lieb, doch lieber noch die Wahrheit“) hätte er jederzeit unterschrieben. Noch im hohen Alter, von körperlicher Schwäche gezeichnet, blitzte aus ihm Gesprächen und Diskussionen immer wieder eine geradezu jugendliche Kraft hervor. 2014 erschien die Sammlung seiner Aufsätze zu Platon, an der er, gesundheitlich bereits stark eingeschränkt, mit ganzer Kraft prüfend, verbessernd und auch noch ergänzend mitgearbeitet hatte. Die Vollendung seines letzten wissenschaftlichen Planes, die Publikation der deutschen Erstausgabe seiner in fünf Sprachen übersetzten, in Italien in mehrfacher Auflage erschienenen Monographie zu Platons Grundlegung der Metaphysik kann er nun nicht mehr erleben. Tübingen verliert mit ihm einen großen Gelehrten, einen leidenschaftlichen Wissenschaftler und einen aufrichtigen Denker.