Uni-Tübingen

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10.11.2021

Catull lesen in Zeiten der Pandemie – ein Online-Blog

Von Ambiguität(en) und Gleichgewicht(en) in der römischen Dichtung Catulls

Die Corona-Pandemie hat nicht nur das öffentliche Leben, sondern auch die akademische Lehre zu großen Teilen in digitale Räume verlagert. Eine Gruppe von Studierenden des Philologischen Seminars hat versucht zu zeigen, dass diese ‚Krise‘ eine Chance sein kann – und bei der Beschäftigung mit antiken Gedichten über Antworten auf erstaunlich aktuelle Fragen reflektiert.

The Corona pandemic has transferred not only public life but also much of academic teaching into digital spaces. A group of students from the Department of Classical Philology has tried to show that this 'crisis' can also be an opportunity. More than that – while studying ancient poems they reflected on answers to surprisingly urgent questions.

Die Krise als Chance

Die Corona-Pandemie, so scheint es, hat unseren täglichen Lebens- und Arbeitsrhythmus aus dem Gleichgewicht gebracht und in eine Krise überführt, deren Ausgang lange offen war – und es in vielen Bereichen bis heute geblieben ist. Gerade in der Anfangszeit der Pandemie, in der die weitere Entwicklung der Geschehnisse kaum abzuschätzen war, waren Lehrende und Studierende gezwungen, einen neuen festen Stand in ‚pandemischen Zeiten‘ zu finden und neue Lehr- und Lernformate zu erproben. Je nach Fachbereich gehen damit unterschiedliche Herausforderungen einher: Die Beschäftigung mit Literatur und Sprache etwa ist – wie viele andere geisteswissenschaftliche Disziplinen – geprägt vom kommunikativen Austausch und der kreativen Diskussion über bisweilen kontroverse Themen. Dies setzt voraus, dass Bedingungen geschaffen werden, die nicht von Funklöchern, Frameraten oder Funktionsaussetzern digitaler Endgeräte abhängig sind, sondern allen Beteiligten eine produktive Teilnahme am Meinungsaustausch ermöglichen.

Die konkrete Idee zu einem Online-Blog entstand im Rahmen eines Hauptseminars zu Catulls Gedichten und Epigrammen im Wintersemester 2020/21, das von Prof. Robert Kirstein und Simon Grund betreut wurde. Wie schon die Veranstaltungen des Sommers zuvor stand das Seminar pandemiebedingt unter dem Zeichen digitaler Lehre und sah sich, wie viele andere Veranstaltungen auch, mit den entsprechenden kommunikativen Hindernissen eines virtuellen Seminarraumes konfrontiert. Dabei hat sich gezeigt, dass Krisen wie diese bisweilen Antworten provozieren, für die es vorher noch gar keine Fragen gegeben hatte: Denn manchmal ergeben sich ja gerade unter dem Eindruck des Plötzlichen, Unerwarteten und Bedrohlichen neue Perspektiven auf Lebensverhältnisse und Alltagspraktiken, die eigentlich als selbstverständlich gegolten hatten.

Das Format eines Online-Blogs, so war nämlich der leitende Gedanke hinter dem Projekt, bildet gleich in doppelter Weise ein Gegengewicht zu den Einschränkungen, die bei Lockdown und Lehre virulent wurden: Auf der einen Seite fordert der essayistische Stil von Blogeinträgen eine gründliche vorausgehende Beschäftigung der Studierendengruppen mit ihrem jeweiligen Thema ein. Und zugleich verlangt er aber auch eine deutlich pointiertere Positionierung als ein klassisches Seminarreferat. Auf der anderen Seite stellen die veränderten Rahmenbedingungen des digitalen Raums auch neue Möglichkeiten der Verstetigung von Diskussionen bereit, die ja prinzipiell an den Anlass einer konkreten Veranstaltung gebunden sind. Die räumliche Entgrenzung des digitalen Lehrformats hat uns nämlich auch die Gelegenheit eröffnet, die Seminarinhalte in einer Form aufzubereiten, die räumlich und zeitlich von ihrem ursprünglichem Kontext gelöst ist.

Der Online-Blog ‘Reading Catullus in Pandemic Times’ versammelt also diejenigen Ideen und Diskussionen der Studierenden, die in einem digitalen Raum entstanden sind, und macht sie in einer gleichermaßen digitalen Publikationsform zugänglich. Das Projekt kann damit in gewisser Weise auch als Gegenbewegung zur Verengung der erlebten Lern- und Handlungsräume in ‚pandemischen Zeiten‘ gelesen werden: Indem die Beiträge des Online-Blogs gezielt seminar-interne Gedanken nach außen tragen und in einen öffentlichen, externen Diskurs überführen, stellen sie auch einen Versuch dar, das krisenhafte Moment der Begrenzung nicht nur zu kompensieren, sondern produktiv und gewinnbringend zu überwinden.

Catulls Gedichte als Zeugnis einer ‚modernen‘ Antike?

Der inhaltliche Bezug des Seminars zum Titel des Blogs ist aber nicht nur ein pragmatischer, sondern auch ein theoretischer. Die weltweiten Auswirkungen der Corona-Pandemie haben gezeigt, dass die (post-)moderne Weltordnung nicht geschützt ist von Situationen, die sich der Kontrolle des Einzelnen, aber auch staatlicher und gesellschaftlicher Ordnungssysteme entziehen. In ähnlicher Weise sind auch die Gedichte Catulls in einer Zeit entstanden, in der vermeintlich sicher Stehendes ins Wanken geriet. Die ausgehende Römische Republik ist geprägt von inneren und äußeren Unruhen, Sezessionen und Bürgerkriegen. Zur gleichen Zeit vollzieht sich innerhalb der römischen Gesellschaft ein generationeller Wandel, bei dem eine Gruppe junger Dichter in ihren Texten einen alternativen Lebensentwurf zum althergebrachten römischen Ideal der ‚Sitte der Vorfahren‘ (mos maiorum) entwirft. Unter ihnen ist auch Catull, über dessen Leben wir nur wenig wissen, der aber in seinen anspruchsvollen und an hellenistischen Vorbildern wie Kallimachos orientierten Gedichten diesen gesellschaftlichen Umbruch literarisch zugleich reflektiert und mitformt.

Catulls Texte verarbeiten literarische Motive von hoher Aktualität, darunter Trauer und Verlust (siehe die Beiträge zu carm. 2,3,3b und carm. 101) und eine Liebe, die sich nicht in erotischem Begehren erschöpft, sondern – und das ist neu – eine Art Seelenband und eine innere Verwandtschaft zwischen den Liebenden postuliert (siehe die Beiträge zu carm. 51, carm. 72 und carm. 87). Dass die in den Gedichten dargestellte Liebe unglücklich endet und ihren Protagonisten zwischen ‚Hassen und Lieben‘ (odi et amo) zerreißt, bringt in konzentrierter Form eine Ambivalenz von Nähe und Distanz zum Ausdruck, die nicht nur in heutiger Zeit ungebrochen aktuell erscheint, sondern gerade auch in pandemischen Zeiten mit neuen Augen gelesen werden kann. Zugleich haben die Gedichte auch eine eminent politische Facette, etwa wenn sie Spott und wilde Schmähungen gegen die öffentlichen Schlüsselfiguren ihrer Zeit richten – unter ihnen keine geringeren als der berühmte Redner Cicero und der nicht weniger bekannte Feldherr Caesar – und damit herrschende Machtgefüge aus der Balance bringen (siehe die Beiträge zu carm. 29, carm. 49 und carm. 57). Damit verbunden klingt der Wunsch nach Stabilität an, nach Erdung und Vertrautheit, etwa in der ländlichen Heimat Sirmio am heutigen Gardasee (siehe den Beitrag zu carm. 31). In Zeiten des Wandels, so scheint es, bildet der private Rückzugsort einen wichtigen Ruhepol.

Balance und Ambiguität als heuristische Bezugsrahmen

Die Gedichte Catulls bilden ein feingliedriges Gewebe mit einer Polyphonie von Motiven, Stimmungen und intertextuellen Anspielungen auf Dichterinnen und Dichter wie Sappho oder Kallimachos. Und doch hat es sich für uns in Zeiten der Pandemie angeboten, die Texte unter einem ganz bestimmten Blickwinkel zu analysieren, der über die fachlichen Grenzen der Klassischen Philologie und Altertumswissenschaften hinausweist: Das Hinterleuchten gesellschaftlicher Diskurse, Hierarchien und Machtstrukturen in einer von Wandel, Unbeständigkeit und Entwicklungsoffenheit gekennzeichneten Zeit können als literarische Reflexionen der Balance gelesen werden, die als ‚Daseinsmetapher‘ ein menschliches Grundbedürfnis nach Sicherheit artikuliert. Mitten in ‚pandemischen Zeiten‘ offenbart sich auch unsere heutige die Weltordnung als prekäres Gebilde, dessen labiles Gleichgewicht jederzeit zu kippen droht.

Dieser heuristische Filter der Balance ergänzt sich gut mit Phänomenen von Ambiguität. Zwar sind Witz und Ironie, Wortspiele und geistreiche Pointen kein Alleinstellungsmerkmal der Dichtung Catulls, sondern vielmehr „the very roots of poetry“, wie schon Empson in seinem berühmten Buch Seven Types of Ambiguity betont hat. Im Fall Catulls kann man aber einen strategischen Einsatz von Ambiguität (oft erotischer Art) als kalkulierten Effekt in Bezug auf das stadtrömische Publikum des Dichters voraussetzen. In den Gedichten Catulls werden Phänomene von Ambiguität umso relevanter, wenn sie sich auf sensible Bereiche wie die Liebe, geschlechtliche Identität (gender) oder politische Machtdiskurse erstreckt, da in diesen Fällen eine bestehende Norm mit einer Pluralität konkurrierender Lesarten konfrontiert wird. Man könnte zuspitzend formulieren, dass gerade die vielgestaltige Ambiguität und die essenzielle Unbestimmtheit textlicher oder kultureller Phänomene eine Spannung erzeugt, die Unbeständigkeit und Wandel innerhalb der Gedichte selbst reflektiert.  

Die Form der Beiträge

Die Beiträge gehen diesen Fragen in unterschiedlicher methodischer Weise nach. Zwar gab es in den einzelnen Seminarsitzungen einen intensiven Austausch über die einzelnen Gedichte im Spannungsfeld von Balance und Ambiguität. Die am Ende entstandenen, auf ‚klassischen‘ Seminarvorträgen aufbauenden, dann aber für das neue Genre wieder stark essayistisch verkürzten Blog-Artikel folgen aber einem jeweils eigenen Entwurf der Studierenden und spiegeln darin im Wesentlichen ihren eigenen Erkenntnis- und Analyseprozess der Texte wider. Daher gebührt ihnen auch gleichermaßen die Anerkennung wie die letzte Verantwortung für die hier vorgestellten Einträge.

Eine digitale Veranstaltung ist für ihr Gelingen maßgeblich von der Mitwirkung aller Beteiligten abhängig. Zuletzt möchten wir uns daher bei den Studierenden des Seminars für die rege Teilnahme, ihr aktives Interesse und die gute und sachlich konstruktive Mitarbeit bedanken. Die klugen Fragen und Ideen, die in den einzelnen Sitzungen vorgebracht und als digitale Blogeinträge hier zur Publikation formuliert worden sind, zeigen einmal mehr eine ungebrochene Aktualität der antiken Welt auch in modernen (pandemischen) Zeiten.

Das Projekt verdankt viele seiner Ideen und Anregungen Tübinger Forschungsprojekten, besonders dem Promotionsverbund „Theorie der Balance – Formen und Figuren des Gleichgewichts in Medien-, Kunst- und Literaturwissenschaften“ und dem DFG-Graduiertenkolleg 1808 „Ambiguität – Produktion und Rezeption“.

Robert Kirstein, Simon Grund

Online-Blog ‘Reading Catullus in Pandemic Times’ (https://uni-tuebingen.de/de/214489

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