Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2010: Leute

Fördern durch Fordern

Zum Tode von Universitätsmusidirektor Tobias Hiller ein Nachruf von August Gerstmeier

Universitätsmusikdirektor Tobias Hiller ist am 4. Juli 2010 durch einen tragischen Unfall im Alter von 43 Jahren ums Leben gekommen. Media in vita stehend, verlor die Universität Tübingen einen ihrer profiliertesten Mitarbeiter.

Tobias Hiller leitete seit seinem Amtsantritt im Wintersemester 1999/2000 die Camerata vocalis, das Collegium musicum und das Akademische Orchester der Universität, sämtlich überfakultäre Einrichtungen. Daneben betreute er anteilsmäßig Kurse für Tonsatz und Gehörbildung am Institut für Musikwissenschaft. Hiller versah seinen Dienst mit außerordentlichem Engagement, mit Energie und Leidenschaft. Früchte seiner Ensemblearbeit waren beeindruckende Aufführungen wie "Jeanne d'Arc" von Arthur Honegger, "War Requiem" von Benjamin Britten, "Stabat mater" von Karol Szymanowski oder "Johannes -Passion" (Fassung 1725) von Johann Sebastian Bach. Neu etablierte Hiller die sogenannte "Bachnacht" sowie die Reihe mit Werken der Neuen Musik im Pfleghofsaal, zu deren Besonderheiten die Einladung und Befragung der jeweiligen Komponisten und Komponistinnen gehörte. Konzertreisen mit den studentischen Ensembles führten ins nahe und ferne Ausland – unter anderem nach China, Frankreich, Brasilien, Niederlande und USA – wo internationale Kontakte geknüpft beziehungsweise intensiviert werden konnten.

Der hohe Anspruch, den Hiller an sich selbst stellte, übertrug sich auch auf die studentischen Klangkörper. Diese leisteten weit mehr, als gemeinhin von geschulten Laienensembles erwartet werden kann. Hillers künstlerischer Gestaltungswille erschöpfte sich nicht in der hemdsärmeligen musikalischen Impulshaftigkeit. Er war vielmehr stets kontrolliert durch die geistige Durchdringung der Kunstwerke. Im Zusammenwirken von emotionaler und reflektierter Gestaltung sah Hiller die Voraussetzung für ein verantwortliches, anspruchsvolles und professionelles Musizieren. Die künstlerische Imagination führte ihn auch zur Komposition eigener Werke. Zunächst trat er in Tübingen mit einer Vervollständigung des 3. Satzes von Schuberts h-Moll Symphonie hervor, wobei er sowohl handwerkliches Geschick wie Stilgefühl demonstrierte.

Die Komposition des Hallelujah-Rufes, aufgeführt in Hillers letztem Konzertauftritt in der Stiftskirche am 19. Juni 2010, kann als Kompendium musikalischer Sprachgestaltung gelten. Die historischen Bezüge reichen vom Mittelalter (Gregorianische Psalmodie) bis ins 20. Jahrhundert (Strawinsky, Ligeti, Schnebel). Hillers letzte Komposition, die "Drei Sätze nach Friedrich Silcher" für gemischten Chor schlägt den Bogen zurück zum Begründer seines eigenen Amtes. Das Schlusslied "Muss i denn zum Städele hinaus" trägt in Silchers Sammlung den Titel "Abschied". Ungewöhnlich und auffallend ist, dass Hiller in seiner Bearbeitung das erste Verspaar der zweiten Strophe am Ende noch einmal wiederholen lässt: "Wie du weinst, dass i wandere muss, wie wenn d'Lieb jetzt wär vorbei!" – was zu einer das Strophenlied erweiternden Coda führt. Das Silchersche Eröffnungsmotiv wird sequenzierend nach oben getrieben und durchbricht die Klangwelt des Volksliedes. Gleichzeitig steigt der Bass mit unerbittlicher Logik stufenweise nach unten, was zu Beginn von Takt 22 auf das Wort "weinst" zu einem schmerzlich dissonierenden Aufprall führt. Erst in den beiden Schlusstakten findet die Musik zu einem versöhnlichen Ende, das wieder an den Volkslied-Duktus Silchers anknüpft. Es scheint fast, als hätte der Komponist in dieser Coda sein bitteres Ende künstlerisch ahnend vorweggenommen.

Tobias Hiller war ein Glücksfall im akademischen Leben der Universität Tübingen und als solcher wird er der Nachwelt im Gedächtnis bleiben.

Professor Dr. August Gerstmeier