Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2010: Forschung

Neues Graduiertenkolleg „Religiöses Wissen im vormodernen Europa“ bewilligt

Transfers und Transformationen – Wege zur Wissensgesellschaft der Moderne

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat Ende November das Graduiertenkolleg 1662/1 „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800)“ an der Universität Tübingen bewilligt. Das Kolleg beschäftigt sich mit dem Spannungsfeld von Wissen und Religion in der europäischen Vormoderne. Es verbindet Wissenschaftler aus der Theologie, Geschichtswissenschaft, Sprach- und Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte und Mittelalter-Archäologie. Die DFG bewilligte zwölf Stellen für Kollegiatinnen und Kollegiaten sowie zwei Stellen für PostDocs, die Förderungsdauer beträgt viereinhalb Jahre.


Im Fokus des neuen Graduiertenkollegs wird jenes religiöse Wissen der Vormoderne stehen, das um das Jahr 1800 – also am Ende der Vormoderne - allenthalben eine schlechte Presse hatte und der Entwicklung der modernen Wissensgesellschaft geradezu im Wege zu stehen schien. Die Arbeitshypothese lautet dabei: Es war gerade die Produktivität und Diskursivität religiösen Wissens, welche bereits im Europa der Vormoderne jene Institutionen, Konzepte und Verfahren etablierte, die den Weg zur modernen Wissensgesellschaft mit anbahnten. Transfer und Transformation religiösen Wissens trugen wesentlich zur Dynamisierung und Ausdifferenzierung von Wissensfeldern bei.


Profil gewinnt diese These im Gegenüber zu heute als weithin plausibel empfundenen Schlüsselkonzepten. Die Hypothese von der „Sattelzeit“ um 1800 neigt zu einer Moderne-Vorstellung, in der das Wissen die Erfahrung der Gegenwart beschleunige, die Erwartung der Zukunft entschränke, und differenziere. Die Vormoderne hingegen habe jede Art von Wissen durch das religiöse Wissen eingehegt, weil „die christliche Lehre […] den Erwartungshorizont unüberholbar begrenzte“, so etwa der deutsche Historiker Reinhart Koselleck. Kurz: Dynamisierung des Wissens sei unter den Bedingungen der Vormoderne kaum denkbar. Das Graduiertenkolleg 1662 will stattdessen in neuer Weise beschreiben, wie sich in Europa die sogenannte westliche Wissensgesellschaft mit ihren Selbstzuschreibungen der Toleranz, Säkularität, Rationalität und Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Bildung, Recht und Politik, Religion, Kunst und Literatur entwickeln konnte.


Religiöses Wissen entstand aus der fortwährenden Auseinandersetzung mit einem Wissenskanon, der als inspiriert, unbedingt verehrungswürdig und darum unberührbar galt. Damit dieses Offenbarungswissen aber handlungsleitend und sozial integrierend wirken konnte, war es notwendig, die in ihm formulierten Überzeugungen und Normen immer wieder neu ins Verhältnis zu setzen zu den sich historisch wandelnden sozialen Ordnungen und kulturellen Praktiken.


Daher unterliegt der Normierungsprozess einer permanenten Transferierung und Transformation: im kreativen Neuverständnis von Texten ebenso wie in der Produktion von Bildern und der Auseinandersetzung mit ihnen, nicht zuletzt in der Dynamik des religiösen Rituals. Daher begreift das Kolleg religiöses Wissen nicht als Block von dogmatisierten Inhalten, sondern als dynamischen Aushandlungsprozess zwischen Experten und Nicht-Experten, zwischen Männern und Frauen, zwischen den Gegenläufigkeiten intergenerationeller Aneignung, zwischen Christen, Juden und Muslimen. Drei große Forschungsfelder werden die Arbeit des Graduiertenkollegs „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800)“ bestimmen:


Die Homepage des Graduiertenkollegs 1662/1 mit den Ausschreibungen der Kollegiaten- und PostDoc-Stellen ist ab 22. Dezember 2010 erreichbar unter:

www.religioeses-wissen.uni-tuebingen.de


Andreas Holzem