Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2020: Schwerpunkt

Corona-Hotline: Psychologische Begleitung durch die Ausnahmesituation

Jennifer Svaldi leitet die Psychotherapeutische Hochschulambulanz des Fachbereichs Psychologie – Vor allem Menschen mit psychischen Erkrankungen brauchen jetzt Unterstützung

Geschlossene Schulen, soziale Kontakte auf Distanz oder gar Isolation in der Quarantäne: Die Corona-Pandemie hat unseren Alltag über den Haufen geworfen und für manche in einen Ausnahmezustand verwandelt. Erstaunlich viele Menschen scheinen damit gut zurechtzukommen. In Umfragen zeigten sich drei Viertel aller Befragten einverstanden mit den derzeitigen Maßnahmen, sagt Jennifer Svaldi, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie. Als Leiterin der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz an der Universität Tübingen kennt sie aber auch andere Schicksale: Für Menschen mit psychischen Erkrankungen oder in problematischen Lebenslagen kann sich die Situation derzeit verschärfen.

Rund 500 Patientinnen und Patienten jeden Alters behandelt die Hochschulambulanz in normalen Zeiten. Angst- und Zwangsstörungen, Sucht, Depression oder bipolare Erkrankungen ‒ jeder mit Bedarf kann sich hier niedrigschwellig beraten und psychotherapeutisch unterstützen lassen. Die Auswirkungen der Krise seien schon im März spürbar gewesen, berichtet Svaldi. „Als Schulschließungen diskutiert wurden, hatten wir Anrufe von Jugendlichen mit Selbstmordgedanken.“ Im Gegensatz zu Schülerinnen und Schüler, die sich über die zusätzlichen „Ferien“ möglicherweise freuten, bedeute eine Schließung für Jugendliche mit psychischen Problemen ein Wegbrechen gewohnter Strukturen. „Strukturen geben Halt. Fallen sie weg, kann das destabilisierend wirken“, erklärt die Psychologin. 

Das Team stieg für Therapiegespräche auf Videokonferenzen um und richtete ein Corona-Krisentelefon ein. Mit bis zu 15 Anrufen pro Tag sei dieses inzwischen sehr gefragt, berichtet Svaldi. So manche Familie suche Rat, die sich mit Beschulung Zuhause und dem ständigen Aufeinandersitzen überfordert fühle. Andere Anrufer(innen) kämpften mit Ansteckungsängsten, Frustration oder finanziellen Sorgen. Auch für Menschen mit Depressionen, die ohnehin zum Rückzug neigten, wirke sich eine erzwungene soziale Isolation fatal aus. 

Wie lässt sich hier aus der Ferne helfen? „Wir versuchen, den Menschen Strategien und Ideen an die Hand zu geben, die beim Umgang mit der Krise helfen“, erklärt Jennifer Svaldi. Unter anderem bespreche man häufig den Aufbau von Tagestrukturen. „Nicht den Tag im Pyjama verbringen, sondern feste Zeiten einrichten, zum Aufstehen, Essen, Lernen und Entspannen – das gibt Sicherheit.“ Auch „Done-Listen“ und eine tägliche Bilanz können gut tun: „Was habe ich heute geschafft?“ Gemeinsam mit Klientinnen und Klienten sucht das Team nach mentalen Strategien. „Wie kann ich meine Kraftquellen aktivieren und die Zeit gut gestalten?“ Soziale Kontakte per Chats und Videokonferenzen seien wichtig, solange sie gut täten. „Dauergespräche über Corona und auch ein ständiger Medienkonsum zu den Infektionszahlen wirken eher belastend.“

Statt sich in Grübeleien zu vertiefen, lieber bewusst entspannen, kreativ werden oder lange aufgeschobene Projekte anpacken: Gerade Menschen mit psychischen Erkrankungen brauchen hier Unterstützung. Letztlich gehe es darum, zu einer anderen Bewertung der Lage zu kommen, sagt Svaldi. „Wird einem klar, dass man mit ‚social distancing‘ etwas für die Gemeinschaft tut, kann das helfen. Und das Wichtigste: Die Situation wird vorbeigehen.“ 

Mit Kolleginnen und Kollegen aus Osnabrück und Münster wird die Psychologin die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf psychische Erkrankungen noch genauer untersuchen. In einer Online-Studie sind Probanden aufgerufen, zu berichten, wie sich ihre Symptome seit November 2019 entwickelt haben. Bereits mehr als 2000 Freiwillige mit und ohne Erkrankungen nehmen teil, weitere sind willkommen! 

Antje Karbe


Corona-Krisentelefon

Sie erreichen das Corona-Krisentelefon der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz wochentags zwischen 10 und 17 Uhr unter Telefon 07071 29-77599

Für den Fall, dass aktuell ein Gespräch stattfindet, ist auch ein Anrufbeantworter geschalten, der täglich abgehört wird.
 

Studie: Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf Menschen mit psychischen Erkrankungen aus?

Wie gehen Menschen mit Angststörungen oder Depressionen mit einem Alltag in der Corona-Pandemie um? Wie erleben Betroffene mit Ess- und Zwangsstörungen, akustischen und optischen Halluzinationen oder Panikattacken die Pandemie? Und wie ergeht es psychisch erkrankten Menschen generell im Vergleich zur gesunden Bevölkerung? Diese und weitere Fragen untersucht die Arbeitsgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Tübingen in Kooperation mit den Universitäten Münster und Osnabrück in einer Online-Studie. Gesucht werden Männer und Frauen ab 18 Jahren mit und ohne psychischer Erkrankung. Die Daten werden anonymisiert erhoben, für die Studie liegt ein positives Ethikvotum vor.

Alle Informationen unter ww3.unipark.de/uc/corona-studie