Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die mit völlig neuen Ansätzen oder an ungewöhnlichen Fragestellungen forschen, können sich nach Vorschlag durch die Universität um Förderung durch die Programmlinie Research Seed Capital (RiSC) bewerben. Erfolgreiche Anträge werden für zwei Jahre mit 100.000 Euro gefördert, davon kommt die Hälfte vom baden-württembergischen Wissenschaftsministerium und die andere Hälfte von der Universität. Auch vier Tübinger Projekte haben den Zuschlag erhalten:
Im Projekt GRAPHTEC untersucht Dr. Silvia Rita Amicone am Competence Center Archaeometry - Baden-Württemberg (CCA-BW) in Zusammenarbeit mit dem Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie (CEZA) Keramiktechnologien und Innovationen im prähistorischen Europa.
Das Projekt konzentriert sich auf spätneolithische und chalkolithische Keramikfunde aus verschiedenen archäologischen Stätten im Struma-Tal (Griechenland und Bulgarien) sowie der weiteren Balkanregion. So will GRAPHTEC einen wichtigen Forschungsbeitrag liefern, wie sich die technologischen Grundlagen graphitverzierter Keramiken entwickelten und interpretiert werden können. Graphitdekorationen sind ein charakteristisches Dekorelement, das sich im 5. Jahrtausend v. Chr. in weiten Teilen des Balkans auf keramischen Gefäßen auszubreiten begann. Bislang ist ein Großteil der Forscher davon ausgegangen, dass solche Graphitdekorationen eng mit der Entstehung und Entwicklung der Metallurgie in Europa verbunden sind. Tatsächlich sind Ursprung und Evolution dieser dekorativen Technik jedoch bis heute weitgehend unklar. Dies liegt in erster Linie daran, dass systematische technologische Untersuchungen fehlen, die sowohl eine große Anzahl von Fundorten umfassen und zugleich verschiedenste moderne archäometrische Methoden verwenden. Ein breit aufgestellter technologischer Ansatz, der solche innovativen Analysetechniken einbezieht, scheint indes besonders lohnend und könnte viele Fragen zu diesen frühen europäischen Gesellschaften beantworten. Besonders erfolgversprechend erscheint dies vor allem in Bezug auf den Transfer technologischen Wissens innerhalb und außerhalb kultureller Gruppen in der Region. Im Fokus der Studie stehen deshalb zwei Forschungsbereiche: die Technologie hinter der Produktion solcher Keramiken sowie die Herkunft des dabei verwendeten Graphits. Diesen Fragen wird Silvia Amicone mithilfe verschiedener archäometrischer Verfahren sowie experimenteller Untersuchungen nachgehen. Teil des Projekts ist unter anderem eine vielversprechende Methode für die Herkunftsbestimmung des verwendeten Graphits durch Kohlenstoffisotopenanalysen, die spektakuläre neue Einblicke ermöglicht.
Das Projekt ist herausfordernd, weil es hochgradig multidisziplinär ist und die Forschungsbereiche traditionelle Archäologie, experimentelle Archäologie, Mineralogie, Geochemie und Archäometrie zusammenführt. Die Beteiligten verstehen es als Referenzstudie für die Produktionstechnologien graphitdekorierter Keramiken. Vor allem wollen sie einen Beitrag dazu leisten, die Mechanismen hinter dem Transfer von technologischem Wissen im Kontext soziokultureller Umbrüche besser zu verstehen, wie sie prägend sind für den Übergang dieser prähistorischen Gesellschaften am Beginn der Metallzeiten. GRAPHTEC soll zudem eine künftige Finanzierung durch Drittmittel für diese Forschungen erleichtern und die Etablierung eines Nachwuchs-Forschungsteams an der Universität Tübingen mit dem Schwerpunkt auf dem Studium der materiellen Kultur mithilfe interdisziplinärer Methoden vorbereiten.
Patienten mit lokal fortgeschrittenen Tumoren des Enddarms werden gewöhnlich zunächst mit einer Radiochemotherapie behandelt, um eine Größenreduktion des Tumors zu erreichen. Danach wird der betroffene Darmabschnitt operativ entfernt, je nach Höhe des Tumors kann dabei ein künstlicher Darmausgang erforderlich sein. Strategien zum Organerhalt werden daher aktuell intensiv diskutiert. Die Herausforderung liegt darin, korrekt vorherzusagen, wie der Tumor auf die Radiochemotherapie anspricht, da im OP-Resektat bei 10 bis 20 Prozent der Patienten bereits kein Tumor mehr nachweisbar ist. Bei diesen Patienten könnte möglicherweise auf die Operation verzichtet und ein Organerhalt angestrebt werden. Ziel der Studie von Dr. Kerstin Clasen, Universitätsklinik für Radioonkologie Tübingen, ist die Korrelation von genetischen Tumorprofilen vor und nach der Radiochemotherapie, sowie von Blutproben („Liquid Biopsies“: Tumor-DNA im Blut und immunologische Marker) und Bildgebungen während der Radiochemotherapie mit dem Tumoransprechen. Die hierfür notwendigen genetischen Experimente mit kleinsten Mengen DNA in den Blutproben und die Korrelation mit immunologischen und bildgebenden Markern sind technisch sehr aufwändig und riskant, zumal zur Interpretation der Ergebnisse unterschiedlichste Expertisen (Biologie, Bioinformatik, Medizin, Physik, Immunologie) zusammengeführt werden müssen. Das Ziel ist, Biomarker für das Ansprechen zu identifizieren, um bei möglichst vielen Patienten einen Organerhalt zu ermöglichen.
Die Verschmutzung von Trinkwasserressourcen mit anthropogenen Spurenstoffen ist ein globales Problem für die Trinkwasserversorgung und den Gewässerschutz. Rückstände von Pflanzenschutzmitteln, Arzneimitteln und Körperpflegeprodukten, die durch ungenügende Abwasserreinigung in den Wasserkreislauf gelangen, können schädliche Auswirkungen auf die Ökosysteme der Gewässer und auf Menschen haben. Die Entfernung persistenter, also schwer abbaubarerer Spurenstoffe aus dem Wasserkreislauf ist deshalb zwingend erforderlich. Biokohle ist ein kostengünstiges und ökologisch nachhaltiges Adsorptionsmittel, das erfolgreich zur Spurenstoff-Elimination eingesetzt werden kann. Nach neuesten Erkenntnissen ist die Entfernung von Spurenstoffen mit Biokohle nicht nur, wie bisher angenommen, auf Sorptionsprozesse, sondern ebenso auf Substanzabbau durch reaktive Prozesse zurückzuführen. Erste Forschungsergebnisse zeigen, dass auch chemische Oxidationsmittel wie Persulfat durch Biokohle aktiviert werden können, was zur Bildung reaktiver Radikale und einer Entfernung von Spurenstoffen durch Oxidation führt. Die durch Biokohle verursachte Umwandlung von Spurenstoffen führt einerseits zu deren besseren Entfernung, kann gleichzeitig aber auch die Bildung unerwünschter Abbauprodukte mit sich bringen. Um eine nachhaltige und sichere Wasserreinigung mit Biokohle zu gewährleisten, müssen Sorptions- und reaktive Prozesse identifiziert und charakterisiert werden.
Ziel des Projekts von Dr. Stephanie Spahr, Arbeitsbereich Umweltmineralogie und Unweltchemie im Fachbereich Geowissenschaften, ist es, mittels substanzspezifischen Isotopenanalysen (CSIA) chemische Umwandlungen von Spurenstoffen an Biokohle-Oberflächen in Ab- und Anwesenheit des Oxidationsmittels Persulfat nachzuweisen und aufzuklären. Das weitverbreitete Insektenabwehrmittel DEET wird als Modellsubstanz für persistente Spurenstoffe herangezogen. Die Annahme ist, dass sich die chemischen Reaktionswege, die zum Abbau von DEET in Persulfat-Biokohle-Systemen führen, in charakteristischen Änderungen der natürlichen Isotopenverhältnisse von DEET widerspiegeln. Experimente mit Biokohle werden im Labormaßstab durchgeführt.
Das Vorhaben ist innovativ und gewagt, da der Verbleib von Spurenstoffen in Kohle-Systemen zum allerersten Mal mit Isotopenanalyse untersucht wird. Das multidisziplinäre Projekt eröffnet aber gleichzeitig die große Chance einzigartig neue Einblicke in Wasseraufreinigungsprozesse in Kohlefiltern zu erlangen, besonders weil Expertenwissen in den Bereichen Biokohle, Radikalchemie, Spurenanalytik und Isotopenchemie verknüpft wird. Die durch das Projekt gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse können maßgeblich zu einer besseren Beurteilung der Effektivität von Kohlefiltern beitragen und zudem die Entwicklung von zur Wasseraufbereitung optimierter Biokohlen und Biokohle-basierten Oxidationsprozessen vorantreiben.
Das Projekt von Dr. Fabian Schlotterbeck, Germanistische Linguistik, verbindet zwei einflussreiche Strömungen aus der computationalen Psycholinguistik und der experimentellen Pragmatik auf innovative Weise, um ein Verarbeitungsmodell der semantisch-pragmatischen Interpretation von kontextuell eingebetteter Sprache zu entwickeln. Diese beiden Strömungen sind zum einen erwartungsbasierte Modelle der menschlichen Sprachverarbeitung und zum anderen rationale Modelle des Sprachgebrauchs im Rahmen effizienter und effektiver Kommunikation. Das Projekt untersucht die empirische Frage, welcher quantitative Zusammenhang zwischen Verarbeitungsschwierigkeiten beim Lesen und Produktionswahrscheinlichkeiten von Satzfortsetzungen in visuellen Kontexten besteht. Das theoretische Bindeglied zwischen diesen beiden Größen ist der sogenannte Informationsgehalt einer Satzfortsetzung im Kontext.
Die Projektziele sollen in drei Schritten erreicht werden. Im ersten Schritt werden formale Modelle von Produktionswahrscheinlichkeiten entwickelt und anhand empirischer Daten trainiert. Diese Modelle erlauben, die Wahrscheinlichkeit vorherzusagen, mit der Sprecher eine gewisse Satzfortsetzung in einem bestimmten Kontext wählen, um diesen zu beschreiben. Im vorgeschlagenen Projekt werden derartige Modelle anhand von drei sorgfältig ausgewählten Testfällen entwickelt. Im zweiten Schritt wird dann anhand desjenigen Testfalls, der die beste Modellpassung an die empirischen Daten geliefert hat, eine Pilot-Lesezeitstudie durchgeführt, in der die Zeit gemessen wird, die benötigt wird um bestimmte Satzregionen zu lesen. Dabei werden die Sätze in derselben Art visuellen Kontexts präsentiert, die auch zur Entwicklung der Produktionsmodelle verwendet wurden. Die so gemessenen Lesezeiten werden dann ins Verhältnis zu den vorhergesagten Produktionswahrscheinlichkeiten gesetzt, um den quantitativen Zusammenhang zwischen diesen beiden Größen zu untersuchen. Im dritten Schritt schließlich werden die somit gewonnenen Erkenntnisse noch vertieft, indem sie auf einen Fall angewendet werden, bei dem sowohl die Abfolge als auch die Produktionswahrscheinlichkeit einzelner Wörter manipuliert wird. Dieser letzte Schritt ist risikobehaftet, da er unter anderem von der erfolgreichen Realisierung der ersten beiden Schritte abhängt. Gleichzeitig ist er von besonderer theoretischer Bedeutung, da er das Potential hat, einen wichtigen ersten Schritt in Richtung eines formalen erwartungsbasierten Modells des inkrementellen, wortbasierten semantisch-pragmatischen Interpretationsprozesses darzustellen.
Maximilian von Platen
Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst (MWK) fördert Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler mit seiner Programmlinie Research Seed Capital (RiSC). Mit der Programmlinie sollen riskante Einzelprojekte ermöglicht bzw. Vorarbeiten für spätere innovative Drittmittelanträge von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern unterstützt werden. Dabei sollen insbesondere neue Forschungsfelder außerhalb gewohnter Wege und Denkweisen gefördert werden. Die Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler können sich nicht direkt für die Förderlinie RiSC bewerben, sondern bewerben sich zunächst bei der Universität in der Förderlinie Projektförderung für Postdocs oder der fortüne-Förderung der Medizinischen Fakultät. Aus den erfolgreichen Anträgen für eine Projektförderung nominiert die Universität dann bis zu vier Postdocs, die sich für RiSC bewerben können. Die Fördersumme bei RiSC beträgt 100.000 Euro für eine Dauer von zwei Jahren. Dabei kommen 50.000 Euro vom MWK und die Universität stockt weitere 50.000 Euro auf - davon sind in der Regel 35.000 Euro Projektförderung.
Die nächste Frist zur Beantragung einer Projektförderung ist der 1. April 2021. Ansprechpartnerin ist Dr. Sonja Großmann (Abteilung Forschungsförderung), Telefon: 07071/29-76489, E-Mail: sonja.grossmannspam prevention@uni-tuebingen.de
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