Liebe Nora Naib Majani, welchen Begriff verbinden Sie mit Ihrer Studienzeit in Tübingen und weshalb?
Freiheit! Da Pendeln für mich keine Option darstellte, zog ich zu Beginn meines Studiums nach Tübingen. Plötzlich wohnte ich alleine und musste mich um ganz alltägliche Dinge und auch um meine Studienangelegenheiten kümmern. Am Anfang war das alles noch neu und ungewohnt. Doch bald begann ich das Gefühl dieser neuen Freiheit sehr zu genießen.
Welches Fach haben Sie in Tübingen studiert und wie hat dieses Ihren Berufsweg geprägt?
Ich habe an der Universität Tübingen Medizin studiert und absolviere nun die ärztliche Weiterbildung zur Psychiaterin und Psychotherapeutin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Tübingen. Es gibt nicht sehr viele Medizinstudierende, die das Studium mit dem festen Vorhaben beginnen, nach dem Studium in der Psychiatrie zu arbeiten. Beliebter sind Kinderheilkunde oder ein chirurgisches Fach. Für mich stand jedoch schon mit 15 Jahren fest, dass ich mich beruflich mit psychischen Erkrankungen befassen wollte. Mittlerweile arbeite ich seit 2016 in der Psychiatrie.
Am Universitätsklinikum leiten Sie zudem die Spezialsprechstunde für Trans*gender und Geschlechtsinkongruenz. Weshalb ist diese Sprechstunde an die Allgemeine Psychiatrie und Psychotherapie angegliedert?
Das bedingt sich aus der Historie. Selbstverständlich ist Trans*identität keine psychische Krankheit.
Mit welchen Anliegen kommen Menschen zu Ihnen in die Sprechstunde?
Das sind sehr unterschiedlichen Anliegen. Manche kommen, da sie feststellen, dass das Thema „Geschlecht“ bzw. „Geschlechtsidentität“ eine große Rolle in ihrem Leben spielt und sie sich eine professionelle Reflexionsfläche wünschen. Andere wiederum kommen mit klaren Vorstellungen hinsichtlich einer Transition, also, dem Angleichungsprozess an ihr tatsächliches Geschlecht, und benötigen dafür medizinische Unterstützung.
Wie helfen Sie?
Das ist sehr individuell und kommt sehr auf die Bedürfnisse der einzelnen Personen an. Häufig unterstütze ich beim Findungsprozess und spreche mit Patient*innen über Fragen, die sie in ihrem privaten Umfeld nicht stellen können oder wollen. Wir reden beispielsweise darüber, mit welchem Namen sie angesprochen werden wollen oder welche Pronomen sie verwenden möchten. Oder aber ich verfasse, nach ausführlichen Beratungsgesprächen, sogenannte Indikationsschreiben, die die Notwendigkeit geschlechtsangleichender Behandlungsmaßnahmen begründen. Hormontherapien oder Mastektomien sind Beispiele für geschlechtsangleichender Behandlungsmaßnahmen. Ohne ein entsprechendes Indikationsschreiben ist eine Geschlechtsangleichung bislang nicht möglich.
Welche Herausforderungen begegnen Ihnen dabei und wie gehen Sie mit diesen um?
Die Herausforderungen sind sehr vielschichtig. Das medizinische System beispielsweise ist binär organisiert und enthält dementsprechend trans*diskriminierende Elemente. Hat eine Person noch keine Vornamens- und Personenstandsänderung beantragt, erhält sie in der Regel ein Klinikzimmer, dass dem ihr bei Geburt zugewiesenem Geschlecht entspricht, nicht ihrem tatsächlichen Geschlecht. Das passiert trotz affirmativer und offener Haltung seitens der Psychiatrie und kann dazu führen, dass Trans*personen immer wieder mit ihrem nicht der vermeintlichen Norm entsprechenden Geschlecht konfrontiert werden. Dadurch können Menschen zusätzlich psychisch belastet werden. Auch im Alltag, im beruflichen und im privaten, führe ich häufig Diskussionen zu trans*-Themen. Die Herausforderung liegt oftmals darin, Gesprächspersonen für das Thema geschlechtliche Vielfalt zu sensibilisieren.
Welche Möglichkeiten gibt es, um Diskriminierungen zu vermeiden?
Viele! Ich nenne Ihnen eine: In einer idealen Welt würden wir, um andere Menschen nicht durch die Verwendung falscher Pronomen zu verletzen, fragen, welche Pronomen sie verwenden. Es ist ein Fehler, zu glauben, dass wir aufgrund des Aussehens einer anderen Person automatisch korrekte Rückschlüsse auf deren Geschlechtsidentität ziehen können.
Vielen Dank für die Einblicke in Ihr Tätigkeitsfeld. Vervollständigen Sie zuletzt noch diesen Satz. Viele meiner Mitmenschen wären überrascht, wenn sie wüssten, dass ich …
… leidenschaftlich gerne Ballett tanze!
Das Interview führte Rebecca Hahn
Sie haben an der Universität Tübingen studiert, geforscht und/ oder gearbeitet? – Treten auch Sie dem Ehemaligen-Netzwerk bei!