Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2023: Forschung
10 Jahre Master Schulpsychologie
Ein Interview mit Caterina Gawrilow, Professorin für Schulpsychologie
Caterina Gawrilow ist seit zehn Jahren Professorin für Schulpsychologie an der Universität Tübingen. Zeitgleich mit ihrer Berufung wurde der Masterstudiengang Schulpsychologie eingerichtet – der einzige in Deutschland.
Was ist Schulpsychologie und seit wann gibt es das Fach?
Schulpsychologie bedeutet Unterstützung und Beratung aller am Schulleben beteiligten Gruppen: Schülerinnen, Schüler, Eltern, Familien, Lehrkräfte, Schulleitungen, Schulaufsicht und Politik. Im Fokus der schulpsychologischen Forschung stehen Schwierigkeiten im Lernen und im Verhalten von Schülerinnen und Schülern.
Neben dem klinischen Fokus, den vermutlich viele Menschen mit Psychologie in Verbindung bringen, war das Fach Psychologie schon immer darauf aus, zu überlegen, was man für Schulen als Institution oder auch für Schülerinnen und Schüler anbieten kann. Schulpsychologie stellt insofern ein wichtiges Anwendungs- und Berufsfeld der Psychologie dar.
Der erste Schulpsychologe in Deutschland hat seinen Dienst 1922 in Mannheim angetreten, also vor gut 100 Jahren.
Warum brauchen wir Schulpsychologie?
Das System Schule ist in Deutschland in vielen Bereichen nicht so erfolgreich, wie es wünschenswert und für ein Industrieland angemessen wäre. Das belegen verschiedene Studien: Die Anteile an Schülerinnen und Schülern ohne ausreichende elementare Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen sind hoch*, und auch die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, die keinen Schulabschluss erwerben, ist mit rund 6,2 Prozent nicht zufriedenstellend. Gleichzeitig gibt es im deutschen Schulsystem immer noch massive soziale Ungleichheiten. Zu viele Kinder und Jugendliche zeigen darüber hinaus ein problematisches Sozialverhalten (Gewalt, Mobbing), ein unzureichendes Gesundheitsverhalten (schlechte Ernährung, mangelnde Bewegung) oder haben Probleme im Umgang mit Stress und Belastungen.
Zu wichtigen Themen der Schulpsychologie gehören die Bereiche Verhaltensstörungen (wie zum Beispiel die ADHS), Lern- und Leistungsstörungen, Übergänge im Bildungssystem, Lernen im Klassensystem, Interventionen und auch Prävention.
Bei der Prävention geht es um die Vermeidung von Lern- und Entwicklungsstörungen bei Heranwachsenden, bei der Intervention um Unterstützungsmöglichkeiten bei bereits vorhandenen Lern- und Entwicklungsstörungen. Interventionen können zum Beispiel im Bereich der Selbstregulation ansetzen. Selbstregulation meint konkret die Regulation von Gedanken, Gefühlen und Handlungen bei Heranwachsenden: Wann muss ich still sein, wann muss ich mir Aufgaben notieren oder auch wann sollte ich nachfragen? Gerade auf diesem Feld haben Schülerinnen und Schüler etwa mit ADHS häufig große Schwierigkeiten – selbst wenn sie kognitiv in der Lage sind, das Gymnasium zu besuchen. ADHS ist eine der am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Die Kernsymptome der ADHS, Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, führen oft zu schulischen Schwierigkeiten der betroffenen Kinder.
Wie ist das Betreuungsverhältnis bei Schulpsychologen?
Bereits 1973 empfahl die Kultusministerkonferenz/Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung eine Versorgung von Schulpsychologinnen und Schulpsychologen auf Schülerinnen und Schüler in der Relation 1:5000. Im Jahr 2022 (Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen / Sektion Schulpsychologie) erreichten nur sieben Bundesländer dieses Ziel, keines lag unter 1:3000. Baden-Württemberg erreicht momentan den Richtwert nicht, In einigen Bundesländern wie Berlin ist die Versorgung auf dem Papier zwar besser, aber dort sind nicht alle Stellen besetzt.
Wir beobachten gerade, dass v.a. Schulen in privater oder kirchlicher Trägerschaft eigene Schulpsychologen anstellen. In den nordeuropäischen Ländern wird insgesamt deutlich mehr in die Schulpsychologie investiert (OECD 2020). In anderen europäischen Ländern gibt es zum Teil Schulpsychologinnen und Schulpsychologen an Schulen, die aber kein vergleichbares Studium absolviert haben.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf die Situation an Schulen?
Wir untersuchten aktuell in einer Studie (#BewegtEuch-Studie https://uni-tuebingen.de/de/226695) gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus der Sportwissenschaft, Sportmedizin sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie die Folgen der Corona-Pandemie für die täglichen Aktivitäten von Jugendlichen, ihre psychosoziale Situation und ihr Wohlbefinden. Besonders im Fokus steht für uns die Frage, welchen Beitrag Sport und Bewegung in Schule, Verein und Freizeit für die Bewältigung von psychischen und sozialen Belastungen leisten können. Die ersten Ergebnisse zeigen – nicht überraschend –, dass Sport und Bewegung einen sehr großen Einfluss auf das persönliche Wohlbefinden von Heranwachsenden haben und der persönliche Austausch für die Jugendlichen viel wichtiger ist als der Austausch über soziale Medien. Während der Pandemie, als soziale Kontakte und Sport (z.B. aufgrund geschlossener Sportplätze und nicht stattfindenden Vereinssports) stark eingeschränkt waren, hat das die psychische Situation von Kindern und Jugendlichen sehr beeinflusst.
Generell sind die Bedarfe durch die Pandemie stark gestiegen, und die Wartelisten für einen Therapieplatz oder einen Platz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sehr lang, selbst bei Notfällen. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter wie auch Schulpsychologinnen und Schulpsychologen sind daher zurzeit sehr gefordert.
Wann wurde das Fach Schulpsychologie in Tübingen etabliert?
Der Tübinger Lehrstuhl für Schulpsychologie wurde 2012 neu geschaffen, mit einem eigenen Arbeitsbereich und dem Schwerpunkt auf der Forschung. Hintergrund waren die Amokläufe in Winnenden und Wendlingen: Der Landtag hat damals beschlossen, dass die Schulpsychologie ausgebaut werden müsse, damit künftig genügend schulpsychologisches Fachpersonal für Baden-Württemberg zur Verfügung steht. Dafür wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Die Universität Tübingen hat sich daraufhin erfolgreich für ein Gesamtkonzept beworben. Dieses Konzept sollte explizit einen Masterstudiengang in Schulpsychologie beinhalten sowie einen Lehrstuhl mit dem Schwerpunkt Forschung in diesem Bereich.
Für mich ist die psychologische Grundlagenforschung in der Schulpsychologie ganz entscheidend, also ein kognitionspsychologischer Ansatz: Welche Grundlagen von Verhalten kann man beobachten, von Lernprozessen bis Gedächtnisleistung? Darauf basierend kann die Schulpsychologie gezielt Unterstützungs- und Beratungsangebote für die Praxis entwickeln und zur Verbesserung des Schulsystems beitragen.
Dritter Baustein des Tübinger Konzepts ist das Kompetenzzentrum Schulpsychologie. Dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten hier in Tübingen, gehören aber formell zum Kultusministerium in Stuttgart. Ihre Aufgabe ist es, die Wissenschaft zu verzahnen mit der Praxis. Sie stehen in ständigem Austausch mit den Schulpsychologinnen und Schulpsychologen vor Ort.
Der Master Schulpsychologie ist eine Tübingen Besonderheit …
Die Universität Tübingen ist aktuell die einzige in Deutschland, die einen Masterstudiengang in Schulpsychologie anbietet. Für die Zulassung zum Studiengang benötigt man ein Diplom oder einen Bachelor in Psychologie. Jedes Jahr stehen 20 – anfangs noch 15 – Studienplätze zur Verfügung, und seit der Einführung haben bereits über 160 Studierende den Studiengang erfolgreich abgeschlossen.
Wir haben eine enge Kooperation mit dem Hector Institut für Bildungsforschung und auch mit dem von der Tübingen School of Education (TüSE) angebotenen Master „Schulforschung und Schulentwicklung“. Pflicht ist bei uns die Belegung von Modulen in der Empirischen Bildungsforschung sowie der Klinischen Psychologie, wir arbeiten also an der Schnittstelle zur pädagogischen und klinischen Psychologie.
Wahlmöglichkeiten für Studierende der Schulpsychologie bestehen darüber hinaus beispielsweise durch das Lehrangebot der Fächer Wissens-, Kommunikations- und Medienpsychologie, Kognitionswissenschaft, Sprachwissenschaft, Erziehungswissenschaft und Soziologie.
Die Berufsaussichten unserer Absolventinnen und Absolventen sind gut, sie sind auch in anderen Bundesländern sehr gefragt. Viele machen nach ihrem Abschluss keine therapeutische Zusatzausbildung, profitieren dafür aber von berufsbegleitenden Zusatzausbildungen im systemischen Bereich.
Sie legen großen Wert auf den Praxisbezug der Ausbildung. Welche Projekte machen Sie gerade mit den Studierenden?
Eine Serie heißt „Prepared for Pride“ – hierbei geht es darum, angehende Lehrkräfte für die Thematik geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung in der Schule vorzubereiten und alle Schülerinnen und Schüler in der Schule angemessen unterstützen zu können.
Gender, Diversität und die Frage, wie man Stereotype aufbrechen kann, ist insgesamt ein sehr wichtiges Thema, auch gerade im Bereich Vorschule. In Kitas sind beispielsweise viele Fachkräfte bei diesem Thema sehr verunsichert. Im kommenden Wintersemester werde ich das in einem Seminar mit meiner Kollegin Prof. Claudia Friedrich aus der Entwicklungspsychologie von der theoretischen Seite erarbeiten. Im darauffolgenden Sommersemester 2024 sollen die Studierenden darauf aufbauend entsprechende Fortbildungen konzipieren, mit der Möglichkeit zur Evaluierung.
10 Jahre Schulpsychologie – Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Fachs?
Ich bin gespannt, in welche Richtung sich die Schulpsychologie entwickeln wird. Der Bedarf an Psychologie in den Schulen und an Schulpsychologie wird immer größer. Die Initiative „Mehr Psychologie in die Schulen“ ist eine Stelle, an der ich mit Kolleginnen und Kollegen versuche, unsere fachliche, universitäre Expertise in die Schulen zu bringen. Es wird sicherlich mehr Angebote für Lehramtsstudierende oder Weiterbildungsangebote in dieser Fachrichtung geben. Eine wichtige Frage wird künftig die Abgrenzung unseres Masterstudiengangs zum Master Klinische Psychologie und Master Psychotherapie sein. Und meine Hoffnung ist, dass die Studierenden sich künftig früher – beispielsweise durch Berufspraktika – orientieren, in welche Richtung sie gehen möchten: Wirtschaftspsychologie, Diagnostik oder eben in den pädagogischen Bereich.
Das Interview führte Maximilian von Platen
* Aktuelle Studien zum Thema Schulerfolg:
Caterina Gawrilow – zur Person
Caterina Gawrilow hat von 1997 bis 2002 Psychologie in Marburg studiert und dort bereits als studentische Hilfskraft in einem Projekt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet, in dem es um Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen ging.
Anschließend wurde sie in Konstanz zu einem Thema der psychologischen Grundlagenforschung promoviert, die vor allem Laborstudien mit Anwendungsbezug beinhaltete. Gawrilow untersuchte, wie man Jugendliche mit ADHS, Aufmerksamkeitsdefiziten bzw. Hyperaktivitätsstörungen durch bestimmte motivationale Instruktionen unterstützen kann, damit sie Aufgaben gut lösen. Später war sie zu Forschungsaufenthalten in Hamburg und New York. 2009 trat sie die Juniorprofessur “Grundlagen von Lern- und Leistungsstörungen“ am Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) in Frankfurt an, bevor sie 2013 auf die neue Professur für Schulpsychologie in Tübingen berufen wurde. Ihr Forschungsansatz ist kognitionspsychologisch, sie betreibt psychologische Grundlagenforschung im Bereich der experimentellen, allgemeinen Psychologie.
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