Der Zutritt zur Neuen Aula ist gesperrt, doch wer zwei Knochen vom Skelett des Tübingosaurus meierfritzorum gefunden hat, dem wird Eintritt gewährt. Drinnen bekommt man das nötige Busticket, um sich auf den Weg in die weite Welt zu machen: Von Tübingen über Milton Keynes und Mexiko-Stadt nach Jerusalem und schließlich Johannesburg. Ziel der Reise: Das Lernen über Globalisierung.
Ein virtuelles Tübingen steht am Beginn des Computerspiels „Graveler“, einem E-Learning-Format, das der Bereich Global Awareness Education im Sommersemester 2023 erstmalig in der Lehre eingesetzt hat. Ziel des Arbeitsbereichs ist es, Studierenden interkulturelle Kompetenzen und globale Zusammenhänge zu vermitteln. Mit Graveler, kurz für „Global Traveler“, geschieht das nun in Form eines Online-Rollenspiels, einem sogenannten Serious Game, das Wissen und spielerische Elemente verbindet. Die Studierenden reisen durch die Welt, erkunden Städte, sprechen mit Einheimischen und müssen Aufgaben erfüllen – Wissensfragen beantworten, Rätsel lösen oder eben verschwundene Saurierknochen und andere Objekte sammeln, die sie fürs Vorwärtskommen benötigen. In jeder bereisten Region erhalten sie schließlich Stempel, die den Erfolg der jeweiligen (Lern-)Mission bescheinigen.
Die Arbeit mit Graveler ist in ein klar strukturiertes Online-Seminarformat eingebunden: Nach einer Zoom-Sitzung als Auftakt wird jede Region in jeweils drei Kursterminen bearbeitet. Die vier Städte Milton Keynes, Mexiko-Stadt, Johannesburg und Jerusalem hat Glaucia Peres da Silva, Dozentin für Global Awareness Education und Ideengeberin für das Spiel, bewusst gewählt: „Dort sind oder waren Autoren von Schlüsseltexten der aktuellen Globalisierungsdebatte an Universitäten tätig,“ erklärt sie. Das Spiel gibt biografische Hintergründe, die die Arbeit der Autoren beeinflusst haben, und stellt dazu auch die politisch-sozialen und kulturellen Gegebenheiten der jeweiligen Regionen vor. In einer Sitzung erspielen sich die Studierenden zunächst all diese Informationen, die sie von Figuren oder an bestimmten Orten erhalten. Dazu sind Fotos und Videos, Weblinks und kurze Texte im Spiel versteckt.
Mit diesem Vorwissen diskutieren die Studierenden in der Folgesitzung einen der Texte zur Globalisierung. Den Abschluss bildet ein Kurstermin mit einer Reflexionsphase: „Wie verbinden wir den Text mit der bereisten Region, mit der Universität, mit der Biografie des Autors? Was kann ich am Text kritisieren oder warum bin ich einverstanden? So entstehen Diskussionen,“ sagt Peres da Silva. Graveler verbindet die virtuellen Welten mit den Funktionen einer Videokonferenzsoftware. So findet das Seminar in einem Online-Raum statt, der über das Spiel zugänglich ist, und wenn Studierenden sich als Avatare treffen, werden sie mit Kamera und Mikrofon zum Gespräch verbunden.
Die Studierenden seien von dem neuen Kursformat begeistert, freut sich Peres da Silva. „Sie merken sich Inhalte besser und das Spiel gibt Anstoß für Gespräche über das Thema Globalisierung.“ So kommt die Dozentin ihrem Ziel näher: „Die Studierenden sollen eine Sensibilität entwickeln, dass die Dinge anderswo einfach anders funktionieren – und dass das auch gut ist.“
Die Idee für ein Lernspiel hatte Glaucia Peres da Silva während der Corona-Pandemie, um durch innovative Lehre neue Perspektiven zu schaffen. „Wichtig war, dass wir die Welt bereisen und die Studierenden nicht zu viele Fachtexte lesen müssen, sondern sich Wissen auch anders aneignen,“ erklärt sie. Obwohl sie bald ein fertiges Konzept im Kopf hatte, war die praktische Umsetzung nicht ganz leicht. Didaktische Expertise steuerte Esther Fink von der Hochschuldidaktik bei, für technische Aspekte war Kevin Körner zuständig, Koordinator im Masterprofil Digital Humanities. „Bei Serious Games ist es wichtig, nicht zu stark auf den Lernaspekt zu setzen und darüber das Spielerische zu vernachlässigen,“ sagt Körner. Er erstellte ein fast 100-seitiges Lastenheft notwendiger Funktionen, der Auftrag zur Umsetzung von Graveler wurde im Frühjahr 2022 vergeben. So entstand ein „Welten-Baukasten“, mit dem studentische Hilfskräfte die einzelnen Regionen gestaltet haben. Der Felsendom in Jerusalem ist ebenso umgesetzt wie die Pyramidenstadt Teotihuacán in Mexiko oder die Soweto-Township bei Johannesburg. Glaucia Peres da Silva hatte Orte und Sehenswürdigkeiten vorgegeben, die Hilfskräfte brachten eigene Ideen mit ein, etwa zu Namen und Aussehen der auftretenden Personen.
In Zukunft möchte die Dozentin Details im Spiel verbessern und sein Potential noch besser nutzen. Zunächst möchte sie das Spiel anpassen, um es auch in anderen Global-Awareness-Kursen einzusetzen. Längerfristig könnte Graveler auch in weiteren Kursen des Bereichs Überfachliche Bildung und berufliche Orientierung oder in den Fakultäten genutzt werden, schließlich sei das Motiv der Reise leicht in andere Kontexte zu übertragen: „Das kann eine Reise durch den Körper oder auch im Universum sein,“ meint Peres da Silva. Wenn es gelingt, Fördergelder für die Weiterentwicklung einzuwerben und interessierte Lehrende zusammenzubringen, kann die Reise von Graveler durch die Universität weitergehen.
Tina Schäfer
Mit der Numismatik-App „Craveler“, kurz für „Coin Traveler“ ist in diesem Jahr ein weiteres Serious Game an der Universität Tübingen entstanden. Die App, ein 3D-Laufspiel, ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts zwischen der Tübinger Numismatik, dem Masterprofil Digital Humanities und externen Partnern mit Förderung durch die VW-Stiftung. Das Spiel will Schülerinnen und Schüler ab 12 Jahren für alte Münzen begeistern: Über Münzen, etwa aus der Antike, lässt sich vieles über die Zeit und die Kultur lernen, in der sie im Umlauf waren. Craveler ist angelehnt an das beliebte Handyspiel „Temple Run“, bei dem man möglichst lange laufen, dabei Hindernissen ausweichen und Münzen sammeln muss. Im Serious Game kommen kleine „Wissenshappen“ rund um die Münzen hinzu. Das Spiel wurde im Juli auf einer Pressekonferenz vorgestellt und ist im Google Play Store erhältlich. Mittelfristig ist auch die Zusammenarbeit mit Schulen geplant, um die App im Geschichtsunterricht einzusetzen.
Fernsehbeitrag zu Craveler bei RTF1
Lehrende, die Interesse an einer Entwicklung von Serious Games in ihrem Fachbereich haben, können sich beim Koordinator im Masterprofil Digital Humanities Kevin Körner melden.
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