Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2025: Leute
Herausragender Alttestamentler und engagierter Universitätslehrer
Zum Tode von Professor Dr. Jakob Wöhrle ein Nachruf von Martin Leuenberger
Jakob Wöhrle ist am 25. März 2025 völlig unerwartet verstorben. Er wurde am 1. Mai 1975 im badischen Hausach geboren, wo er aufwuchs, 1994 das Abitur ablegte und auch kulturell beheimatet war. Für das Studium der Evangelischen Theologie ging er zunächst an die Kirchliche Hochschule in Bethel, wo er seine Frau Stefanie kennenlernte, wechselte dann in das aufblühende Leipzig und schließlich nach Münster in Westfalen.
Nach Abschluss des ersten theologischen Examens in Baden wurde Jakob Wöhrle in Münster bei Rainer Albertz Assistent, verfolgte altorientalische Studien und qualifizierte sich wissenschaftlich mit der Promotion 2006 und der Habilitation 2008 zu den Anfängen und zum Abschluss der Entstehung des Zwölfprophetenbuchs.
Mit diesem monumentalen Doppelwerk legte er eine innovative und eindrucksvolle Synthese vor, welche die Forschung international bis heute wesentlich mitprägt: In minutiöser, die exegetischen Positionen wohl und stets respektvoll abwägender Einzelanalyse hat er das gesamte Zwölfprophetenbuch, von Hosea bis Maleachi, untersucht und ein redaktionsgeschichtliches Modell ausgearbeitet, das den Entstehungsprozess dieser prophetischen Schriften von den literarischen Anfängen im 8. Jh. über maßgebliche Bearbeitungsstufen während der staatlichen und nachstaatlichen Zeit bis hin zur kanonischen Endgestalt in der hellenistischen Ära in weiterführender Weise nachzeichnet. Dabei gelingt es ihm herausragend, die literarischen Querbeziehungen und den langzeitigen theologischen Diskurs unterschiedlicher Verfasserkreise zu profilieren, welche Einsichten in der Forschung seither breit und nachhaltig aufgenommen werden.
Für dieses handwerklich wie exegetisch kunstvolle Gesellenstück, das den ,state of the art‘ der alttestamentlichen Wissenschaft repräsentiert, wurde er mit hochdotierten Preisen ausgezeichnet, und er hat in der Folge für viele Jahre das SBL Steering Committee „Book of the Twelve Prophets“ geleitet und geprägt. Diese Anerkennungen freuten ihn, ließen ihn aber, wie auch später das renommierte Heisenberg-Stipendium von 2012–2014, bescheiden bleiben. Gut familiär geprägt blieb in er seinen weiteren Arbeiten stets bei seinen – exegetischen – Leisten: Die sorgfältige Textarbeit bildete durchwegs die Basis für seine Publikationen, deren Zahl rasch anwuchs und weitere Bereiche des Alten Testaments erschloss.
Besonders wertvoll war ihm seine noch in Münster verfasste Monographie „Fremdlinge im eigenen Land. Zur Entstehung und Intention der priesterlichen Passagen der Vätergeschichte“ (2012), weil er hier nicht nur sein methodisches Programm verdichten konnte, sondern zugleich den Einstieg in die Pentateuchforschung und hier namentlich in die Vätergeschichte nahm. Neben dem Standbein in der Prophetie und einigen programmatischen Aufsätzen zu den Psalmen etablierte er hier, wie er als Fußballkenner wohl gesagt hätte, ein neues Spielbein. Denn in den letzten 15 Jahren ,bespielte‘ er mit großer Konstanz und immensem Tiefgang zentrale Texte der Urgeschichte und der Vätergeschichte im Buch Genesis.
Diese Arbeit hat ihn auf seinem akademischen Weg von Münster über verschiedene Vertretungsprofessuren, den ersten Lehrstuhl an der Universität Oldenburg, den er von 2014–2019 innehatte, bis nach Tübingen, wo er seit 2019 als Universitätsprofessor gewirkt hat, begleitet. So hat er beispielsweise die theologischen und anthropologischen Grundlegungen in Gen 1–4 in einer Reihe von Aufsätzen behandelt und hier nicht nur religionsgeschichtliche Prägungen im altorientalischen Kulturbereich exakt herauspräpariert, sondern auch Horizonte der sozialen und politischen Geschichte im alten Israel und Juda/Jehud in den Blick genommen. Auf dieser Grundlage befand sich ein umfangreicher Kommentar zur Vätergeschichte in Arbeit, der nun unvollendet bleiben muss.
Unvollendet bleiben auch große internationale Forschungsvorhaben, an denen er, oft federführend, beteiligt war. Herausgegriffen seien hier nur auf der einen Seite die von der DFG geförderte internationale Kooperation mit der Universität Prag unter dem Titel „Concepts of Biblical Israel“. Und auf der anderen Seite sei die exegetisch-archäologische Zusammenarbeit mit den Universitäten Tel Aviv und Heidelberg genannt, aus der vielversprechende interdisziplinäre Ergebnisse hervorgegangen sind. Jakob Wöhrle hat dieses Projekt wiederholt mit Ausgrabungskampagnen, die er so schätzte, verbunden und zumal bei der Lautenschläger-Tel-Azekah-Expedition es auch Tübinger Studierenden ermöglicht, Grabungserfahrungen zu sammeln und das Land der Bibel kennen zu lernen.
Damit klingt auch schon an, dass Jakob Wöhrle ein außergewöhnlich engagierter Universitätslehrer war, der die Studierenden auf aktuellem Stand der Wissenschaft grundsolide und stets auf dem neusten Forschungsstand auszubilden bestrebt war. In seinen didaktisch raffiniert vorbereiteten Lehrveranstaltungen vermittelte er mit viel persönlicher Verve alttestamentliche Grundkenntnisse in Überblicksvorlesungen sowie Forschungsgeschichte und Exegese für fortgeschrittene Studierende. Einblicke in aktuelle Debatten bot er in seinen internationalen Forschungsseminaren, von denen Studierende und Doktorierende gleichermaßen profitierten. Beispiellos ist sodann sein Einsatz bei der persönlichen Begleitung seiner Doktorandinnen und Habilitandinnen, die ihm ein wahres Herzensanliegen war.
Auch als Tagungsorganisator und Herausgeber mehrerer internationaler Zeitschriften und Publikationsreihen (wie dem JBL, der HeBAI, als Managing Editor seit 2022 oder den Studies in Cultural Contexts of the Bible) hat sich Jakob Wöhrle überaus verdient gemacht und den Wissenschaftsbetrieb vorangebracht. Dies gilt auch für die Leitung der Fachgruppe Altes Testament der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, die er seit 2024 wahrgenommen und in deren Funktion er noch Mitte März eine überaus anregende und sehr gut besuchte Tagung zur alttestamentlichen Gerichtsprophetie in Tübingen organisiert hat. Zusammen mit seinem ihm so wichtigen MitarbeiterInnen-Team, das sich durch einen genuinen Wöhrleschen ,spirit‘ auszeichnete, wusste er eine wissenschaftlich wie gesellig inspirierende Atmosphäre zu kreieren, die allen Anwesenden unvergesslich ist. Mit solchen Konferenzen und seiner Arbeit insgesamt hat er sich ein weltweites Netz an akademischen Weggefährten und Freunden aufgebaut.
Neben allen diesen wissenschaftlichen Aufgaben hatte Jakob Wöhrle seit 2021 das Amt des Prodekans der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Tübingen inne. Die Einrichtung einer Gemeinsamen Seminarverwaltung mit der katholischen Schwesterfakultät und dem Zentrum für Islamische Theologie wurde von ihm wesentlich mitgestaltet. Mit der ihm eigenen Zuverlässigkeit hat er für die Fakultät vieles bewegt. Er war ein zuverlässiger und humorvoller Kollege, der im Dekanat eine große Lücke hinterlässt.
Auf all diesen wissenschaftlichen und akademischen Feldern reißt der völlig unerwartete Tod von Jakob Wöhrle jähe Lücken auf. Die von ihm geleistete Arbeit und die daraus hervorgegangen Impulse werden in Zukunft nachhaltig weiterwirken. Das ist nur ein nur kleiner Trost für den Verlust des herausragenden Wissenschaftlers und Alttestamentlers, des verlässlichen Kollegen und Freundes, des umsichtigen Lehrers und Mentors und vor allem des fürsorglichen Vaters und Ehemanns. Dass uns Jakob Wöhrle zur Unzeit in der vollen Blütephase seines Wirkens verlassen musste, erfüllt uns mit tiefer Trauer. Die Evangelisch-Theologische Fakultät spricht der Trauerfamilie Stefanie Wöhrle mit Anneli und Mina ihr aufrichtiges Beileid aus. Sie und die ganze alttestamentliche Fachwelt werden dem hochgeschätzten Kollegen und Freund Jakob Wöhrle ein dankbares und ehrenvolles Andenken bewahren.
Martin Leuenberger