Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2025: Leute
Ein rauer Weg vom Steinkohle-Untertagebau ins Dekanat
Zum Tode von Professor Hartmut B. Stegmann ein Nachruf von Bernd Speiser
"Per aspera ad astra" war ein Lebensmotto von Hartmut B. Stegmann, Professor für Organische Chemie an der Universität Tübingen. Und "raue Pfade" charakterisieren den Lebensweg unseres früheren Kollegen im Institut für Organische Chemie in der Tat.
Am 16. Oktober 1931 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt geboren, experimentierte er bereits als Schüler mit Reagenzgläsern. Ob die Inspiration durch die räumliche Nähe der Leunawerke der IG Farben hier eine Rolle gespielt hat, darüber lässt sich nur spekulieren. Es sollten allerdings schwierige Jahre vergehen, bis er die Chemie zu seinem wissenschaftlichen Lebensinhalt machen konnte. Ein erster Schritt war 1949 die Flucht aus der damaligen sowjetischen Besatzungszone Richtung Westen. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt im Untertage-Steinkohlebergbau in der Zeche Pattberg als "Gedingeschlepper" (so auch der Titel seiner sehr persönlichen Autobiographie aus dem Jahre 2019), wurde schließlich "Hauer".
Dabei sparte er sich genügend Geld an, um danach eine zweite Ausbildung zum Chemisch-technischen Assistenten an der Chemieschule Dr. Grübler in Isny zu durchlaufen. Die Jahrgangsbesten erhielten gemäß einer Absprache mit dem damaligen Land Württemberg-Hohenzollern eine Studienberechtigung an der Universität Tübingen. Der Prüfungsvorsitzende war kein anderer als Georg Wittig, Direktor der Chemischen Institute in Tübingen (und später, nach seinem Wechsel nach Heidelberg, Chemie-Nobelpreisträger).
In Tübingen verpflichtete Wittig ihn zuerst einmal zu einem Jahr Leibniz-Kolleg. Für die obligatorischen Chemiepraktika musste man sich zusätzlich durch "Gläserspülen" in einem der Privatlaboratorien der Ordinarien qualifizieren. Nach dem Vordiplom konnte Hartmut Stegmann eine Stelle in der Redaktion des "Houben-Weyl-Müller" (eines Handbuchs der Organischen Chemie, zu dieser Zeit herausgegeben vom Tübinger Organiker Eugen Müller) ergattern, so dass das weitere Studium finanziell gesichert war. Diplom- und Doktorarbeit fertigte er dann im Arbeitskreis eben von Eugen Müller an. Die Thematik (organische Radikale mit Schwefel- und Selen-Atomen) wies schon den weiteren wissenschaftlichen Weg, nämlich die Untersuchung der Chemie von Radikalen (das sind chemische Verbindungen mit ungepaarten Elektronen). Nach einer Postdoc-Zeit in Harvard entschied er sich für eine Laufbahn als Hochschullehrer. 1969 reichte er die kumulative Habilitationsschrift ein und es wurde ihm die venia legendi verliehen, 1987 erhielt er die Amtsbezeichnung "Universitätsprofessor".
Mit dem Physiker Klaus Scheffler verfasste er die grundlegende Monographie zur Elektronen-Spin-Resonanz (ESR)-Spektroskopie – ESR war damals eine neuartige Messtechnik und ist bis heute die Standardmethode zur Untersuchung von Radikalen geblieben. Zu den Verbindungsklassen, deren Eigenschaften Hartmut Stegmann maßgeblich bearbeitete, gehören Radikale mit Metall- und Halbmetallatomen, heterocyclische Radikale, Diazoniumsalze, (Semi-)Chinone, Polymere, Phosphine, das Vitamin C, Neurotransmitter und Carbene. Immer ging es um den Nachweis, die Herstellung, die Stabilisierung und die Funktion dieser reaktiven Teilchen. Untersuchungen zur Schädigung von Nadelbäumen oder landwirtschaftlichen Nutzpflanzen durch Umwelteinflüsse zeigten die Beteiligung freier Radikale (sogenannter "oxidativer Stress") an natürlichen Vorgängen. Ähnlich nutzte er die ESR-Spektroskopie und ihre Varianten zur Beschreibung der Erkennung zwischen Molekülen ("molekulare Erkennung"; wenn es um die für die Natur besonders wichtigen Moleküle, die in zwei spiegelbildlichen Formen vorkommen, geht: "chirale Erkennung"), ein Effekt, der vielen Prozessen in lebenden Zellen zu Grunde liegt.
Die Resultate der Untersuchungen fanden international Anerkennung. Wahrlich also nach rauen Wegen eine erfolgreiche Forscherlaufbahn mit Gastprofessuren in Australien und den USA sowie Gastvorträgen in aller Welt. Beispielhaft verdeutlicht der Lebenslauf von Hartmut Stegmann auch, wie solche Karrieren in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts verlaufen konnten.
In der Lehre war Hartmut Stegmann die Betreuung der bisweilen eher marginalisierten Lehramtskandidaten der Chemie ein besonderes Anliegen. Nicht wenige der zukünftigen Gymnasiallehrer fanden den Weg in seine Arbeitsgruppe zur Zulassungsarbeit und sogar zur dortigen Promotion. Mehrere Jahre (1992-1994) war er – in unruhigen Zeiten – Dekan der damaligen Fakultät für Chemie und Pharmazie (inzwischen aufgegangen in der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät). Im Jahr 1997 ging er in den Ruhestand, betreute aber bis 2003 weiterhin Doktoranden und Mitarbeiter. Immer war Hartmut Stegmann zupackend, aufmerksam und zugewandt. In Konflikten versuchte er zu schlichten und einen Ausgleich zu finden, indem er pragmatische Lösungen vorschlug. Gleichwohl hatte er zu hochschulpolitischen Fragen klare Positionen. Noch 2007 schaltete er sich per Beitrag im Schwäbischen Tagblatt kritisch in die aufbrandende "Elite"- und "Exzellenz"-Diskussion ein.
Im Ruhestand konnte er sich ausgiebig den Reisen in alle Welt widmen, einer Neigung, der er auch schon in seiner aktiven Wissenschaftlerzeit soweit wie möglich nachgegangen war. Sei es mit dem Fahrrad, dem Motorrad, dem Auto, dem Kajak, dem Segelboot – vom jeweiligen Wohnort, zuletzt Rottenburg, aus ging es in alle Himmelsrichtungen. Kürzlich ist Hartmut B. Stegmann im Alter von 93 Jahren verstorben. Es bleiben seine wissenschaftlichen Beiträge und die Erinnerung an einen geachteten und geschätzten Kollegen.
Bernd Speiser