Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2025: Leute

Experte für Bach, Liebhaber von Chor- und Orgelmusik

Zum Tode von Professor Dr. Ulrich Siegele ein Nachruf von Thomas Schipperges

Die Universität Tübingen, die Philosophische Fakultät und das Musikwissenschaftliche Institut gedenken in Trauer und mit respektvollem Dank Professor Dr. Ulrich Siegele. Er verstarb im fünfundneunzigsten Lebensjahr am 29. März 2025 in Kiel nahe des letzten Wohnortes Schwedeneck in der Eckernförder Bucht. 

Siegele, geboren am 1. November 1930 in Stuttgart, war der Universität Tübingen seit 1951 verbunden. Musikalisch geprägt – sein Vater stand der Jugendmusikbewegung um Fritz Jöde sowie dem Musikdenken August Halms nahe und befasste sich auch mit der Musik Altwürttembergs und Oberschwabens – begann er ein Studium der Kirchenmusik in Esslingen. Seine Interessen führten ihn aber dann nach Tübingen zur Klassische Philologie (Otto Weinreich, Wolfgang Schadewaldt, Günther Wille, Walter Jens) und Geschichte und zunehmend zur Musikwissenschaft (Georg Reichert, Walter Gerstenberg, Georg von Dadelsen). Ein – versteht sich – Sommersemester in Kiel ergänzte die Tübinger Studienzeit. 1957 wurde Siegele bei Gerstenberg promoviert und sodann dessen Assistent. Er folgte Gerstenberg für ein Semester nach Heidelberg und zurück nach Tübingen. 

In dieser Funktion leitete er bis 1969 auch das Collegium musicum vocale. Siegele entwickelte den Chor der Universität zu einem experimentellen Forschungsinstrument, mit dem er neben der praktischen Aufführung von Musik das Verhältnis von Komposition und Aufführung beleuchtete und in einem weiten Feld von Josquin über Schütz und Monteverdi bis zu Bach Einsichten über historische Aufführungsformen vermittelte. Das zudem die Chormusik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts zwischen Mendelssohn und Brahms, Wolf und Reger, Schönberg und Distler gepflegt wurde, versteht sich. 

Weitere Felder Siegeles der Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und historisch informierter Aufführungspraxis galten – gemeinsam mit Walther Dürr – der italienischen Monodie sowie der Tastenmusik Frescobaldis. 1989 baute Peter Vier für das Tübinger Institut zwei Orgeln: eine kleine im italienischen Stil des frühen siebzehnten und eine große im französischen Stil des späten achtzehnten Jahrhunderts, aufgestellt im Saal und in der Kapelle des Pfleghofs. Geschichte und Bau der Instrumente legte Siegele in einer Buchpublikation dar (Die Orgeln des Musikwissenschaftlichen Instituts im Pfleghof zu Tübingen, 1992). Seminare auch gemeinsam mit Universitätsmusikdirektor Alexander Šumski erschlossen das Repertoire etwa französischer Orgelmessen. Seit 2013 wurden die beiden Orgeln in neunundfünfzig montäglichen Soireen mit wechselnden Themenreihen der Öffentlichkeit wieder vorgestellt; zuletzt fanden Orgelkonzerte zum Tag des offenen Denkmals 2024 statt. Auch über diese Instrumente wird Ulrich Siegele ein fester Markstein der Institutsgeschichte bleiben. 

1965 habilitierte sich Ulrich Siegele mit einer quellenkundlichen Arbeit über Die Musiksammlung der Stadt Heilbronn. Jeweils kurzzeitig unterbrach Siegele seine Tübinger Lehrtätigkeit und unterrichtete an der Universität Konstanz und als Visiting Lecturer in Leeds. 1971 zum außerplanmäßigen Professor ernannt, erhielt Siegele 1979 eine hauptamtliche Professur für Musikwissenschaft, die er bis zu seinem Ruhestand 1995 innehatte. Seine Mitwirkung in universitären Gremien umfasste unter anderem den Vorsitz der Frauenkommission sowie eine Tätigkeit als Prodekan der Fakultät für Kulturwissenschaften. Über den Ruhestand hinaus war er Mitglied und stellvertretender Sprecher im Graduiertenkolleg „Die Bibel – ihre Entstehung und ihre Wirkung“.

Die Musik Johann Sebastian Bachs bildete lebenslang ein Zentrum von Ulrich Siegeles Lehr- und Forschungsinteressen. Seine Dissertation galt der Kompositionsweise und Bearbeitungstechnik in der Instrumentalmusik Johann Sebastian Bachs (1957, Stuttgart 1975). Zahlreich folgende Beiträge zu Bach bezeugen die Vielfalt seiner struktur- und formanalytischen bis religions- und gesellschaftsbezogenen Zugänge zu diesem Komponisten. Eine Vorlesungsreihe galt der Biographie Bachs im Kontext der politischen, theologischen, sozialen und ökonomischen Situation seiner Zeit. Gemeinsam mit UMD Tobias Hiller, KMD Ingo Bredenbach und Johanna Irmscher, Professorin für Chorleitung an der Hochschule für Kirchenmusik, initiierte und etablierte Siegele die zweijährlich stattfindende „Lange Bach-Nacht“. Regelmäßige Einladungen erreichten ihn auch bereits zu DDR-Zeiten zu Bach-Konferenzen in Leipzig.

Die Breite seiner wissenschaftlichen Arbeit zeigt sich in zahlreichen weiteren Büchern und Aufsatzpublikationen, so zu Kompositionsverfahren ‒ in der Reihenfolge der Beiträge ‒ bei Boulez (Zwei Kommentare zum „Marteau sans maître“, 1979), Beethoven (Formale Strategien der späten Quartette, 1990), Monteverdi (Cruda Amarilli, oder: Wie ist Monteverdis „seconda pratica“ satztechnisch zu verstehen?, 1994), Wagner („Kunst des Übergangs“ und formale Artikulation. Beispiele aus Richard Wagners „Tristan und Isolde“, 2000) und Ligeti (Planungsverfahren in György Ligetis „Aventures & Nouvelles Aventures“, 2002). „Siegeles analytischer Ansatz“, so die Selbstbeschreibung in der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart, „stellt sich entschieden auf den Standpunkt des Komponisten und entschlüsselt dessen Problemstellungen und Lösungsstrategien.“ Von der „Rekonstruktion einer historischen Grammatik der Musik“, „immer ganz nah an den Quellen“ und „konsequent analytisch“ sprechen die Festschriften zu seinen sich rundenden Geburtstagen. 

Auch dem regionalgeschichtlichen Umfeld widmete Siegele Abhandlungen. Es entstanden Reflexionen Zur musikalischen Topographie des deutschen Südwestens (1994). Mehrere Arbeiten galten dem Stuttgarter Stifts- und Hoforganisten Johann Ulrich Steigleder (gest. 1635), darunter eine Monographie zu seinen Choralbearbeitungen und ein maßstabsetzender Editionsband seiner Ricercar Tabulatura 1624 (2008). 2004 gab Siegele einen Sammelband zur Oberschwäbischen Klostermusik im europäischen Kontext als Festschrift für Alexander Šumski zum siebzigsten Geburtstag heraus. Ihm selbst gewidmete Festschriften erschienen zu seinem sechzigsten (hg. von Rudolf Faber, 1991) und siebzigsten Geburtstag (hg. von Siegbert Rampe: Bach. Das Wohltemperierte Klavier I. Tradition, Entstehung, Funktion, Analyse, 2002). Beide Bände belegen die Wertschätzung, die dem Lehrer Siegele entgegengebracht wurde, indem er einerseits Freiheit bei der Wahl der Gegenstände gewährte, andererseits dabei stets Sorge für den angemessenen methodischen Zugang trug. Siegeles Anliegen der Erziehung, „selbst von Musikwissenschaftlern, zu gesellschaftlicher Verantwortung“ betonte in einer Laudatio Jutta Schmoll-Barthel. Dass Ulrich Siegele auch Kontroversen nicht aus dem Weg ging, zeigt seine Stellungnahme zum 1993 vorgelegten quellenorientierten Konzept der im Rahmen der Gesellschaft für Musikgeschichte in Baden-Württemberg publizierten Denkmäler der Musik in Baden-Württemberg

Bis in seine letzten Lebensjahre arbeitete Siegele an einem analytischen Projekt zu Tempo und Dauer in Bachs Musik. Diese Texte belegen die immer wieder staunenmachende Präzision und Produktivität des Autors bis ins hohe Alter. Fünf Bände unter dem Titel Johann Sebastian Bach komponiert Zeit sind seit 2014 erschienen. Ulrich Siegele sandte sie in treuer Verbundenheit regelmäßig auch an sein Institut. Einen letzten Band dieser Reihe wird Linda Maria Koldau postum herausgeben. 

Im November 2015, aus Anlass seines fünfundachtzigsten Geburtstags, war Ulrich Siegele zuletzt am Musikwissenschaftlichen Institut zu hören, mit einem Vortrag über Die Disposition der Dauer in Bachs Matthäuspassion. Wir werden sein langjähriges Wirken als Lehrer und Forscher, als Musikinitiator und selbst aktiv Musizierender, seine so fabelhaft reichen Gedanken und seinen charmanten Witz in steter Erinnerung behalten.

Thomas Schipperges