C 06
Der RessourcenKomplex Gesundheit und Körper am Beispiel der Unani Medizin in Südindien
Fachklassifizierung | Kulturanthropologie |
Teilprojektleitung | Alex, Gabriele, Prof. Dr. Burgsteige 11 E-Mail-Adresse: gabriele.alexspam prevention@uni-tuebingen.de |
DoktorandInnen und Postdocs | Sieler, Roman, Dr. SFB 1070 RessourcenKulturen Raum 305 |
In der ersten Förderphase beschäftigten sich zwei Fallstudien mit zwei Ressourcen in Südindien: Reis und Heilpflanzen. Im Mittelpunkt standen die Konzeptualisierung und Nutzung dieser Ressourcen innerhalb unterschiedlicher, sich wandelnder ökologischer, sozialer, politischer und ökonomischer Lebenswelten. In Anlehnung an Studien von Bruno Latour, Tim Ingold und Anna Tsing wurden analytische Ansätze entwickelt, die das Schaffen und Erfahren des Wertes einer Ressource als Prozess der Interaktion von Menschen, Lebewesen, Dingen und Medien unter konkreten, empirisch zu untersuchenden Bedingungen verstehen. Demzufolge sind Ressourcen nicht als ursprüngliche oder ökonomisch zu analysierende Naturgüter zu verstehen, sondern stets in hybride Netzwerke eingebettet. Die Nutzung von Ressourcen und die Bewirtschaftung der damit verbundenen Naturräume findet beispielsweise ihren Niederschlag in soziokulturellen Ordnungssystemen lokaler Gesellschaftsgruppen: unterschiedliche Rituale und Mythen der Region beziehen sich auf die Landschaftsräume und die Beziehung der Menschen zu ihnen; sozio-politische Strukturen und „Gender“-Konzepte sind eng verwoben mit den jeweiligen Subsistenzmodi; und historische Entwicklungen haben zu Änderungen dieser Zusammenhänge und der Bewertung von Ressourcen und Naturräumen geführt. Die Untersuchung beleuchtete zudem, inwieweit Ressourcen in gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Zusammenhänge eingebettet und folglich als RessourcenKomplexe, also als Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure, einschließlich Menschen, aber auch nicht-menschlicher „Akteure“ wie Rohstoffe, Textbücher, Medikamente, Labore, Apotheken, etc., zu analysieren sind.
Die zweite Förderphase vertieft diesen prozess- und systemorientierten Ansatz. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Rolle von Wissen und Wissenstraditionen für die Handhabung und Umwandlung von Ressourcen unter der Prämisse der gegenseitigen Bedingung und wechselseitigen Beeinflussung von Natur und Kultur sowie die Frage, wie sich der RessourcenKomplex ‚Gesundheit und Körper im Kontext politischer, religiöser und wissenschaftlicher Entwicklungen in Südindien verändert.
Teilprojekt C06 erforscht nun wie sich die Nutzung unterschiedlicher medizinischer Ressourcen, wie heilender Substanzen oder Textbücher, im Kontext politischer und wissenschaftlicher Entwicklungen in Südindien verändert. Als Forschungsgegenstand dienen hierbei südindische Medizintraditionen wie die Siddha Medizin und die Unani Medizin – beiden kam bislang nur vergleichsweise wenig Forschungsinteresse entgegen.
Eine Arbeitshypothese ist, dass die Analyse eines RessourcenKomplexes unser Verständnis von Gesundheit, Körper, und Medizin, und von der Aushandlung regionaler, und religiöser Identitäten bereichert. Eine weitere Hypothese ist, dass sich die Themen Gesundheit und Körper in Südindien und die dazugehörigen RessourcenKomplexe nicht isoliert von anderen, globalen RessourcenKomplexen und Zusammenhängen (wirtschaftliche, legale, soziopolitische, etc.) analysieren lassen.
Traditionelle Medizin in Indien wurde seitens Indologen, Historikern und Ethnologen zumeist unter Berücksichtigung der speziellen, lokal anzufindenden Konzepte, Praktiken und Texte untersucht. Eine solche Herangehensweise übersieht jedoch leicht die globalen Verstrickungen traditioneller Medizin. Vor diesem Hintergrund wird die Hypothese aufgestellt, dass traditionelle Medizin nicht vollständig durch ihr lokal produziertes Wissen oder Produkte beschrieben oder verstanden werden kann. Traditionelle Medizin schließt vor allem vielfältige lokale Formen der Anpassung an nationale und internationale Vorgaben mit ein und, umgekehrt, nimmt gar Einfluss auf internationales politisches und wirtschaftliches Handeln und ist somit ein globales Phänomen. Die Studie kann in dieser Hinsicht die oft weitreichenden Netzwerke hervorheben, in welche traditionelle Medizin eingeflochten ist. Ein Beispiel hierfür ist Quecksilber, eine Substanz, die speziell in der Siddha Medizin hochgeschätzt und in therapeutischen Präparaten verwendet wird. Verwendung von Quecksilber jedoch hängt von nationalen und internationalen Richtlinien und Regulationen toxischer Substanzen ab, und beeinflusst diese gleichzeitig. Das Teilprojekt soll untersuchen, wie sich die Nutzung von Quecksilber und ähnlichen, als gefährlich geltenden Substanzen, wie Blei, Arsen, etc. in der Siddha Medizin ändert.
Neben dem Fokus auf der Nutzung von Quecksilber und ähnlichen Substanzen in traditioneller Medizin liegt ein weiteres Forschungsinteresse auf der Unani Medizin in Südindien. Diese wird oft als Graeco-Arabische Medizintradition bezeichnet, da sich die muslimischen Ärzte oder „Hakims“ auf eine Tradition berufen können, die die antike griechische Medizin mit islamischer Philosophie, Wissenschaft und Medizin kombiniert. Da dieses System vorrangig von Muslimen praktiziert wird, wohingegen andere indische Medizintraditionen (Ayurveda, Siddha Medizin) eher mit hinduistischer Tradition verbunden sind, ist zu erwarten, dass eine vergleichende, ethnographische und ethnohistorische Analyse der Yunani Medizin es ermöglicht, religiöse, kommunale und identitätspolitische Dimensionen eines RessourcenKomplexes im Allgemeinen und von Medizin im Speziellen zu beleuchten. Konkret beleuchtet die Fallstudie einen umfangreichen Korpus an Textbüchern, und beschreibt deren wechselhafte Geschichte und moderne Rekonfiguration sowie Nutzung seitens traditioneller Yunani Ärzte im tamilsprachigen Südindien.
Spezifisch fragt das Teilprojekt:
Warum setzen sich manche Ressourcen (beispielsweise Quecksilber oder Textbücher) und Gruppen durch, andere nicht?
In welcher Form und durch welche kontextualisierenden Faktoren haben sich beispielsweise die Unani Medizin und die Siddha Medizin verändert, einander angenähert, oder voneinander abgegrenzt?
Welche Rolle spielen dabei Identitätspolitik und kommunale Strukturen? Welche Rolle spielen hierbei globale Richtlinien in Bezug auf Gesundheit?
Und welche neuen Erkenntnisse liefert eine ressourcenfokussierte Analyse hinsichtlich „traditioneller“ Medizin einerseits sowie religiöser Identitäten andererseits?
Während zu erwarten ist, dass dies die wechselseitige Konstituierung von Ressource und Gesellschaft unterstreicht, und dazu dienen soll, Ressourcen als Prozesse zu betrachten, so beinhaltet dies auch die Möglichkeit, unser Verständnis von Medizin und von Machtbeziehungen in Südasien zu überdenken.