Uni-Tübingen

Projektbereich B: Katastrophen

Beschreibung

Neben „Aufruhr“, „Ordnungszersetzung“ und „Ordnungskonkurrenz“ bildet das Themenfeld „Katastrophen“ einen der vier Teilbereiche des SFB. Der Projektbereich B versteht Katastrophen als Ereignisse, deren Bedeutung sich im Kontext komplexer Kommunikationsprozesse herausbildet und somit stets gesellschaftsspezifischen Wahrnehmungs- und Wissensformen unterliegt. Hierbei knüpft er an jene Vorannahmen zur Evidenz und Verortung von ordnungsbedrohenden Phänomenen an, die sich in der inneren SFB-Architektur niedergeschlagen haben. Im Rahmen der einzelnen Teilprojekte gilt es nun zu untersuchen, ob die jeweiligen Katastrophen von den Betroffenen tatsächlich als evidente existentielle Bedrohungen erfahren und hinsichtlich ihres Ursprungs außerhalb der Ordnungsgrenzen lokalisiert werden. Die Leitdifferenzen des SFB dienen dem Projektbereich B somit als ein heuristisches Instrumentarium zur Analyse soziokultureller Verinnerlichungs- und Entäußerungsprozesse.

Der Moment der Katastrophe bildet den Ausgangspunkt der einzelnen Falluntersuchungen. Hierbei handelt es sich um hybride Extremereignisse im Grenzbereich zwischen Mensch und Umwelt, die mit gravierenden Zerstörungen verbunden sind, alltägliche Routinen zeitweilig außer Kraft setzen und infolgedessen starke Emotionen sowie einen massiven Deutungs- und Handlungsdruck nach sich ziehen. Ob und inwiefern die jeweiligen Ordnungskonfigurationen der betroffenen Gesellschaften durch solche Einbrüche bedroht werden, hängt vom Umfang und der Struktur ihrer ökonomischen, technischen und kulturellen Verarbeitungskapazitäten ab. Zu Letzteren können spezifische, oftmals an lokale Gegebenheiten gebundene Katastrophentraditionen zählen, die sich im wiederholten Umgang mit vergleichbaren Ereignissen herausgebildet haben und die Bewältigung erneuter Katastrophenfälle nachhaltig prägen.

Im Zentrum der Untersuchungen steht die weit gefasste postkatastrophale Situation; gefragt wird nach den Formen und Funktionen der Bedrohungskommunikation und des Bewältigungshandelns. Zudem ist in jedem Fallbeispiel zwischen verschiedenen Dimensionen der Betroffenheit zu unterscheiden und den Dynamiken des Wechselbezuges von lokalen und überregionalen Verarbeitungsprozessen nachzugehen. Hierbei kann der Projektbereich B an eine gegenstandsbezogene Forschung anknüpfen, die inzwischen klarere Konturen gewonnen hat. Von der Soziologie als Thema geisteswissenschaftlicher Disziplinen eingeführt, befassen sich seit einigen Jahren auch die Geschichts- und Kulturwissenschaften verstärkt mit Katastrophen. Diese gelten indessen nicht mehr als isolierte Sonderfälle, sondern werden vielmehr prozessual verstanden, als sich wiederholende und in die Entwicklung von Gesellschaften eingebettete Phänomene. Während sich naturwissenschaftliche Disziplinen besonders darauf konzentrieren Katastrophen als messbare geophysikalische Ereignisse zu fassen und auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften verschiedentlich dazu tendiert wird, diese mittels quantifizierbarer Größen, wie Opferzahlen, materieller Schäden oder struktureller Regelmäßigkeiten, zu klassifizieren, steht im Rahmen des interdisziplinär ansetzenden SFB 923 die Frage nach der gesellschaftsspezifischen Erfahrung im Vordergrund: Der Projektbereich B versteht Katastrophen als Ereignisse, die sich in Abhängigkeit von kurzfristigen Wahrnehmungs- und langfristigen Rezeptionsprozessen konstituieren – als Ereignisse, deren Grund und Ausmaß nicht letztgültig feststehen, sondern dynamischen, stets wandelbaren Deutungen unterliegen.

Die Frage nach der anthropogenen Dimension natürlicher Extremereignisse wird innerhalb der Katastrophenforschung zumeist unter den Begriffen vulnerability (Verwundbarkeit) und resilience (Widerstandsfähigkeit) verhandelt. Hierbei richtet sich der Fokus auf die gesellschaftsspezifischen Verarbeitungskapazitäten und, daraus resultierend, auf die Anfälligkeit für katastrophenbedingte ökonomische, technische, infrastrukturelle oder kulturelle Schäden. In Abhängigkeit des Untersuchungskontextes und der jeweiligen Forschungsperspektive werden die genannten Konzepte jedoch sehr unterschiedlich gefasst und angewendet. Diese Unschärfe soll im Projektbereich B produktiv genutzt werden, um einen Zugang zu eröffnen, der es ermöglicht, Katastrophen in ihrem jeweiligen soziokulturellen Umfeld zu verorten und zu untersuchen, auf welche Weise hierbei Gewordenes und Plötzliches, Vertrautes und Fremdes, Ordnung und Unordnung miteinander verknüpft sind.

Der Projektbereich B besteht aus fünf Teilprojekten, die sich aus verschiedenen disziplinären Perspektiven mit Katastrophen befassen und einen weiten Raum- und Zeithorizont eröffnen. Sie reichen vom 5. vorchristlichen Jahrhundert bis in die Gegenwart und erforschen sowohl europäische als auch außereuropäische Katastrophenräume. Im Einzelnen sind dies:

B01: Erdbeben als Bedrohung sozialer Ordnungen. Bedrohungskommunikation in Literatur – Bedrohungskommunikation als Literatur (5. Jh. v. Chr. – 6. Jh. n. Chr.).

B02: Hungerkatastrophen als Bedrohung religiöser und sozialer Ordnungen. Bedrohungskommunikation und Bewältigungshandeln in christlichen Gesellschaften (1570-1980).

B03: Lawinen als Bedrohung sozialer Ordnungen. Katastrophentraditionen im zentralen Alpenraum (19. und 20. Jahrhundert).

B04: Sand- und Staubstürme als Bedrohung industriegesellschaftlicher Ordnungen. Sowjetunion/Russland, China und Australien seit den 1940er Jahren.

B05: Aids als Bedrohung der ärztlichen Berufsordnung und der politischen Ordnung. Mediziner und Aids in der Bundesrepublik und der DDR (1981 – 1989).

Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Schwerpunkte ergeben sich einige grundlegende gemeinsame Fragestellungen, durch die eine innere Kohärenz der thematisch, räumlich und zeitlich weit gestreuten Teilprojekte gewährleistet wird. Neben den ordnungskonstitutiven Strukturen, die infolge der Konfrontation mit einer existentiellen Bedrohung herausgefordert werden, gilt es insbesondere den gesellschaftlichen Umgang mit solchen Einbrüchen in den Blick zu nehmen und somit nach den Eigenheiten der Bedrohungskommunikation und des Bewältigungshandelns zu fragen. Von besonderem Interesse sind dabei: