Uni-Tübingen

Teilprojekt B05: Aids als Bedrohung der ärztlichen Berufsordnung und der politischen Ordnung. Mediziner und Aids in der Bundesrepublik und der DDR (1981 – 1989)

Abstract

Das Teilprojekt B05 untersucht die Reaktion der Ärzteschaft in der Bundesrepublik und in der DDR auf die Aids-Bedrohung während der 1980er Jahre, die eine regelrechte „Angstepidemie“ auslöste. Das Interesse des Projekts gilt einerseits der Ärzteschaft als Bedrohungskommunikator und damit der Frage, wie sie wegen der anfangs vermuteten hohen Ansteckungsgefahr, Aids als Bedrohung für die ärztliche Berufsordnung, aber auch für die politische Ordnung (in der Bundesrepublik die freiheitlich-demokratische Grundordnung; in der DDR die sozialistische Gesellschaftsordnung) kommunizierte. Andererseits behandelt das Teilprojekt das ärztliche Bewältigungshandeln. Mit seiner komparativen Perspektive greift das Projekt die von der Forschung noch unbeantworteten Fragen nach Vergleichsaspekten und Transferprozessen zwischen den (unterschiedlich organisierten) Ärzten in der Bundesrepublik und DDR auf.

Projektteam

Projektleitung:
Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing

Mitarbeiter:

Dr. Henning Tümmers

Fachgebiete und Arbeitsrichtung

Geschichte der Medizin/Geschichte der medizinischen Ethik

Projektbeschreibung

In den 1980er Jahren löste Aids eine „kollektive Hysterie“ aus. Die mysteriöse Immunschwächekrankheit, über die amerikanische Epidemiologen erstmals im Sommer 1981 berichteten und die anfangs scheinbar nur Homosexuelle betraf, galt spätestens mit den ersten heterosexuellen Opfern im öffentlichen Bewusstsein der Bundesbürger als „die Katastrophe schlechthin“ und „Bedrohung Nummer 1“. Aber nicht nur in der Bundesrepublik machte Aids Angst: Aus Furcht vor der Seuche und ihren Auswirkungen implementierte die Regierung der DDR bereits Anfang der 1980er Jahre ein katastrophenschutzähnliches Maßnahmenpaket.

Das Teilprojekt untersucht die wegen Aids von Medizinern entfachte Bedrohungskommunikation und das damit einhergehende ärztliche Bewältigungshandeln. Es konzentriert sich auf die 1980er Jahre, weil in dieser Zeit die den Aids-Diskurs fortan prägenden kommunikativen Muster ausgebildet und wegweisende Entscheidungen zur Bekämpfung der Seuche getroffen wurden. Im Mittelpunkt steht die Ärzteschaft in der Bundesrepublik und der DDR, die wegen ihrer hehren ethischen Grundsätze und ihrer fachlichen Kompetenz sowohl bei den Regierungen als auch bei den Bürgern hohes Ansehen und Vorbildcharakter besaß. Dies machte es Ärzten möglich, Einfluss auf die Aidsdebatte in Politik und Öffentlichkeit zu nehmen. Mediziner kommunizierten seit Beginn der 1980er Jahre jedoch nicht nur die fatalen gesundheitlichen Folgen der Immunschwächekrankheit, sondern auch, wie durch Aids die ärztliche Berufsordnung und die politische Ordnung (in der Bundesrepublik die freiheitlich-demokratische Grundordnung, in der DDR die sozialistische Gesellschaftsordnung) bedroht waren. Sie waren die für Seuchen zuständigen Experten, von denen Lösungsvorschläge zur Bewältigung der Bedrohung und ein verantwortliches Handeln erwartet wurden, um die durch Aids bedrohten Ordnungen zu stabilisieren.

Das Teilprojekt behandelt drei Themen:

a) Aids als Bedrohung für die ärztliche Berufsordnung: die innerprofessionelle Perspektive

Mittels eines professionshistorischen Ansatzes richtet das Teilprojekt den Blick auf die innerärztlichen Diskussionen der (unterschiedlich organisierten) Ärzteschaft in der Bundesrepublik und der DDR. Es untersucht, wie Ärzte in den 1980er Jahren Aids als eine Bedrohung ihrer ärztlichen Berufsordnung wahrnahmen, mit welchen ethischen Dilemmata sie sich konfrontiert sahen und welche Grundsätze ärztlichen Handelns kontrovers erörtert wurden.

b) Aids als Bedrohung für die politische Ordnung: die gesellschaftliche Perspektive

Der ärztliche Aids-Diskurs blieb nicht auf die medizinische Profession und berufsständische Themen beschränkt. Vielmehr wirkte er sich darüber hinaus auf Politik und Öffentlichkeit aus, deren Diskussionen er seinerseits aufgriff. Nachdrücklich thematisierte die Ärzteschaft, dass die neuartige Infektionskrankheit durch ihre ungehemmte Ausbreitung auch die politische Ordnung in Deutschland bedrohe. Das Teilprojekt will deshalb zum einen den Verlauf, die Dynamik und die Folgen der ärztlichen Bedrohungskommunikation in der Bundesrepublik und in der DDR näher untersuchen, zum anderen die ihr zugrunde gelegten Diagnosen und Prognosen beschreiben und erläutern, wie die Ärzteschaft die Aids-Bedrohung definierte. Das Projekt beabsichtigt, kommunikative Muster herauszuarbeiten und darzulegen, wie diese aus dem innerprofessionellen Aids-Diskurs in die öffentliche Bedrohungskommunikation übertragen wurden beziehungsweise wie die öffentliche Aidsdebatte die Bedrohungswahrnehmung der Ärzte beeinflusste. Ein weiterer Fragenkomplex bezieht sich auf das ärztliche Bewältigungshandeln: Das Teilprojekt analysiert, inwieweit Ärzte mit den von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen nur bemüht waren, neben ihrer Berufsordnung auch die politische Ordnung zu bestätigen oder ob es ihnen nicht auch darum ging, die Aids-Bedrohung zum Anlass zu nehmen, Defizite und Mängel zu problematisieren und die politische Ordnung zu modifizieren. Es fragt des Weiteren, ob sich durch die Aids-Debatte die gesellschaftliche Stellung der Ärzte veränderte und die Ärzteschaft an Einfluss auf politische Entscheidungen gewann.

c) Aids als Bedrohung in Ost und West: die komparative Perspektive

Das Teilprojekt will schließlich die „ideale Versuchsanordnung“ (Hockerts) nutzen, die sich aufgrund der deutschen Teilung für die historische Forschung ergeben hat. Diese erlaubt, die Reaktionen auf ein und dieselbe Bedrohungsquelle in zwei politischen Ordnungen gegenüberzustellen, die sich in der Organisation von Gesellschaft, Öffentlichkeit und Ärzteschaft grundsätzlich voneinander unterschieden, gleichwohl wegen ihrer gemeinsamen Geschichte und räumlichen Nähe aber miteinander verflochten waren. Das Projekt untersucht, inwieweit Aids dazu führte, dass sich die beiden deutschen Teilstaaten und Teilgesellschaften, trotz Mauer und Eisernen Vorhangs, einander annäherten. Der Blick richtet sich darum auf die, für den Kalten Krieg typischen, wechselseitigen Beobachtungen des jeweiligen weltpolitischen Gegners und die internationalen Begegnungen zwischen Experten. Der deutsch-deutsche Vergleich trägt einerseits dazu bei, die jeweiligen ordnungsbedingten Kommunikations- und Wandlungsprozesse besser zu profilieren, andererseits die Annäherungsprozesse auf der Ebene der Ärzteschaft – und damit transnationale Entwicklungen – zu thematisieren.

Projektbezogene Vorträge und Publikationen

Tümmers, Henning