Uni-Tübingen

Teilprojekt B im Zusatzverbund: Bedrohte Ordnungen in Badakhshan (Tadschikistan): Der Dorfgeistliche Xalifa als Mediator und Katalysator moralischen Wandels

Abstract

Das geplante Teilprojekt befasst sich mit Reproduktion, Aushandlung und Wandel moralischer Ordnungen im gegenwärtigen Badakhshan (Tadschikistan). Derzeit wirken vor allem drei Arten von Institutionen auf die lokale Ordnung der Bevölkerung des Pamir-Gebirges ein: internationale Organisationen, Einrichtungen des Aga Khan und der tadschikische Staat. Deren Maßnahmen, Normen und Werte werden auf lokaler Ebene durch den Dorfgeistlichen (Xalifa) vermittelt, aber auch gesteuert bzw. moderiert. Unter besonderer Berücksichtigung der Handlungsweisen und Strategien dieser Xalifas untersucht das Projekt, wie sich die externen Einflüsse auf die Konzepte von Moral und die Inhalte lokaler Ordnungen auswirken, inwiefern dabei Prozesse der Lokalisierung und Delokalisierung bzw. der Homogenisierung und Pluralisierung stattfinden und inwieweit diese Dynamiken als Bedrohungen wahrgenommen werden.

Projektteam

Projektleitung:
Prof. Dr. Roland Hardenberg

Mitarbeiterin:

Stefanie Kicherer, M.A.

Fachgebiete und Arbeitsrichtung

Ethnologie

Projektbeschreibung

Forschungsstand und eigene Vorarbeiten

Tadschikistan, der kleinste der zentralasiatischen Staaten, ist 1991 aus der gleichnamigen Sowjetrepublik hervorgegangen. Die gesamte tadschikische Provinz Badakhshan ist vom Pamir, dem zweithöchsten Gebirge der Welt, bedeckt. Ihre schwere Zugänglichkeit begünstigte die Entstehung zahlreicher ethnischer, linguistischer und religiöser Disparitäten. Doch trotz bzw. gerade wegen seiner peripheren Lage und Tendenz zur kulturellen und politischen Autonomie gab es immer wieder größere Mächte und Kräfte, die ein Interesse an Badakhshan entwickelten; insbesondere, wenn es, wie im „Great Game“, den „Puffer“ zwischen konkurrierenden Mächten bildete (Hopkirk 1990). Die große geopolitische Relevanz der Region wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion abermals offenbar: Anfang der 90er Jahre brach in Tadschikistan ein blutiger Bürgerkrieg aus, der erst 1997 beendet werden konnte (Akiner 2001). Auch heutzutage wird die Region aufgrund von organisierter Kriminalität und Drogenschmuggel weiterhin als besonders sensibel angesehen. Verschiedenste Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen sind daher vor Ort in der Entwicklungszusammenarbeit aktiv.

Anders als das intensive internationale Engagement in Badakhshan vermuten ließe, ist die Kenntnis der dortigen heutigen Gesellschaft und Kultur jedoch vergleichsweise gering. Seit der Öffnung Tadschikistans sind bislang fünf ethnologische Monographien zum tadschikischen Badakhshan in englischer Sprache publiziert worden: Frank Bliss (2006) befasst sich vor allem mit Geschichte, Kulturgeographie, materieller Kultur und der Rolle der Entwicklungszusammenarbeit. Die Arbeiten Koens (2009), Keshavjees (1998) und Lieses (2009) sind thematisch stark auf Medizinethnologie und angrenzende Bereiche fokussiert. Steinbergs (2011) Forschung, die auch Nordpakistan einbezieht, befasst sich mit dem modernen Ismailitentum als transnationaler, deterritorialisierter Gemeinschaft. Das geplante Projekt greift Ergebnisse aus diesen Studien auf, geht aber über sie hinaus, indem es einen eigenen Forschungsfokus entwickelt: die Rolle des Dorfgeistlichen im Kontext der Standardisierung als auch Pluralisierung von Ordnungen durch externe Akteure.

Die vorgesehene Mitarbeiterin Stefanie Kicherer hat im März 2011 an einer Exkursion der Universität Tübingen in die Pamir-Region teilgenommen und in diesem Rahmen erste Kontakte zu Institutionen, wie der University of Central Asia (UCA) und zum Institute for Humanities in Dushanbe und Khorog, geknüpft. Unterstützt durch ein Stipendium der Gleichstellungskommission der Universität Tübingen hat sie anschließend vom 5.9. bis 12.12.2011 in Badakhshan einen Kurs in der Pamirsprache Shugni absolviert und erste Surveys im Bartang-Tal durchgeführt. Mit Hilfe eines DAAD-Reisestipendiums hält sie sich derzeit seit Mai 2012 in der Region auf, lernt intensiv die lokale Sprache und führt erste systematische Untersuchungen durch.

Ziele, Vorhaben, Arbeitsplan

Die Forschung wird sich mit Prozessen des Wandels befassen und hierbei insbesondere die Beeinflussung der lokalen Ordnungen durch verschiedene, vor allem externe Akteure unter die Lupe nehmen. Einen Schwerpunkt der Untersuchung bilden normative Ordnungen und Moralität, welche das Handeln in verschiedenen Lebensbereichen regulieren. In Badakhshan sind es hauptsächlich drei Akteure, die gezielt auf lokale normative Ordnungen einwirken, dabei ihre eigenen Ideensysteme mittransportieren und zu soziokulturellem Wandel beitragen. Diese sind: 1) Nichtregierungsorganisationen (NGOs) der Entwicklungszusammenarbeit, 2) das moderne „Welt-Ismailitentum“, vertreten durch Institutionen des Aga Khan, und 3) die Zentralregierung in Dushanbe. Insbesondere die detaillierte Untersuchung des Wirkens der Dorfgeistlichen (Xalifas) soll einen Zugang zum Feld der Transformation (und Reproduktion) lokaler Ordnungen ermöglichen. Der Xalifa ist somit einerseits eine lokale Ordnungsinstitution, andererseits ein Vermittler für Einflüsse von außen. Die Untersuchung seiner Tätigkeitsbereiche bietet darum einen ausgezeichneten Zugang zur Erforschung der Wechselwirkungen von Lokalisierung und Delokalisierung, Homogenisierung und Pluralisierung.

Mit der Untersuchung der Handlungsweisen und Strategien dieser Xalifas, im Kontext der externen Beeinflussung – und auch Bedrohung – lokaler Ordnungen, sollen vor allem drei Forschungsziele verfolgt werden. Erstens sollen die Handlungsnormen, kulturellen Ideensysteme und sozialen Ordnungsmuster auf lokaler Ebene erfasst werden. Zweitens soll herausgearbeitet werden, welche normativen Ordnungen von außen auf die lokalen Ordnungen wirken und wie sie zueinander in Beziehung gesetzt, integriert oder auch abgelehnt werden. Drittens soll, ausgehend von diesen empirischen Untersuchungen, ein allgemeiner Beitrag zu der Frage nach den Dynamiken in der Beziehung zwischen Ordnungen und Bedrohungen geleistet werden. Das Thema des geplanten Teilprojektes knüpft insbesondere an die folgenden forschungsleitenden Begriffe und Kategorien des Zusatzverbunds „Kulturelle Dynamiken der Bedrohungskonstitution“ an:

Viele Organisationen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit sind in Badakhshan aktiv und versuchen, die Region nach wirtschaftswissenschaftlichen Maßstäben zu transformieren. Ein großes Interesse an der Region hat auch der Aga Khan, der die lokalen, eher heterodoxen Praktiken den Doktrinen des modernen, globalisierten Ismailitentums angleichen möchte. Hier besteht über die räumliche Dimension Anschluss an die Projekte A–Alex, D–Nieswand und F–Scheer. Außerdem versucht die tadschikische Zentralregierung, die Autonomiebestrebungen zu unterbinden, indem sie eine Politik der kulturellen Standardisierung verfolgt. Aus diesen Beobachtungen ergibt sich die Frage, ob und von wem diese massiven externen Eingriffe als Bedrohung wahrgenommen werden und ob sie zur Homogenisierung oder eher zur Pluralisierung der lokalen Gruppierungen führen. Hier bestehen Anschlussmöglichkeiten an die Projekte A–Alex, C–Mende, D–Nieswand, E–Sassenberg und F–Scheer.

In diesem Projekt sollen nicht nur Ordnungen dokumentiert, sondern auch untersucht werden, ob und wie über diese Ordnungen (und ihre Bedrohung) reflektiert wird. An dieser Stelle ist Moralität angesiedelt, die hier verstanden wird als der Zusammenhang zwischen einem Korpus von Normen und jeglicher Art von Bewusstsein und Reflektion über diese Normen. Eine moralische Ordnung ist aber nicht nur ein analytisches, sondern zugleich auch ein indigenes Konzept: In Badakhshan wird hierfür der arabisch-persische Terminus Akhloq benutzt. Dieses Konzept ist mit anderen indigenen Konzepten verbunden und somit selbst Teil von soziokulturellen Ideensystemen und Kosmologien. Dieser Ansatz gestattet die Untersuchung der Kulturbezogenheit von „Ordnung und Bedrohung“, erweitert den Blick über den deutschen und mitteleuropäischen Raum hinaus und ermöglicht Einblicke in islamisch geprägte Sinnzusammenhänge. Hier besteht Anschluss an die Projekte A–Alex und D–Nieswand.

Um die genannten Ziele zu erreichen, wurden im Rahmen erster Feldforschungen in Badakhshan grundlegende Daten zu lokalen Normen, sozialen Ordnungsmustern, Ideensystemen und Handlungspraxis erhoben. Diese Untersuchungen sollen im Rahmen des geplanten Projektes intensiviert werden. Zu diesem Zwecke werden Zensusdaten erhoben und Genealogien dokumentiert. Mithilfe der Methode der Haushalts- und Netzwerkanalyse werden faktische soziale Beziehungen aufgenommen. Zusätzlich sollen auch die transnationalen Akteure (Vertreter des Nationalstaates, des transnationalen Ismailitentums und der transnationalen NGOs) und die Auswirkung ihrer Netzwerke auf die Lokalität erfasst werden. Darüber hinaus sind insbesondere die Tätigkeitsbereiche der Xalifas zu berücksichtigen. Im Verlauf der Forschung sollen die Xalifas regelmäßig bei der Ausführung ihrer diversen Aufgaben begleitet werden. Dabei soll der Fokus auf normative Ordnungen, die von außen auf die normative Ordnung in Badakhshan einwirken, gelenkt werden. Strukturierte und semistrukturierte Interviews mit den Xalifas zu ihrem Werdegang, den durchgeführten Praktiken sowie zu Fragen und Konzepten der Moralität und soziokulturellen Transformation sollen die Beobachtungen ergänzen.

Projektbezogene Vorträge und Publikationen

Hardenberg, Roland

Kicherer, Stefanie